Ana Mendieta – der ungeklärte Tod einer Künstlerin

In_Memoriam_AnaMendieta

Wie starb die junge, erfolgreiche Künstlerin Ana Mendieta wirklich? Diese Frage wird vermutlich für immer ungeklärt bleiben. Denn der einzige, der dazu verlässlich Auskunft hätte geben können, war Carl Andre. Doch der 1935 geborene und Anfang 2024 gestorbene Künstler hat die Wahrheit über die Vorgänge in der Todesnacht seiner damaligen Frau mit ins Grab genommen. Intensive Recherchen von Journalisten und ein Mordprozess mit Carl Andre auf der Anklagebank haben starke Zweifel an seiner Version der Vorgänge geschürt. Warum der gefeierte Künstler der Minimal Art dennoch freigesprochen wurde und welch enorme Verwerfungen der Tod Ana Mendietas in der Künstlerszene verursachte, erfährst du hier.

Aber der Reihe nach. Noch vor dem Morgengrauen des 8. September 1985 will sich ein Portier aus der Nachbarschaft der 300 Mercer Street mitten im New Yorker Greenwich Village einen Kaffee im nahe gelegenen 24-Stunden-Shop holen. Da durchbrechen Schreie einer Frau die Stille der Umgebung. Sie kommen aus dem Apartmenthochhaus, in dem auch der Shop ist: »No, no, no, no!«

Der Mann lokalisiert die Stimme in einem der oberen Stockwerke und charakterisiert sie später als scharf und kämpferisch. (Seine Aussagen als Zeuge werden noch eine wichtige Rolle spielen.) Etwas über vier Sekunden darauf zucken die Angestellten des durchgehend geöffneten Lebensmittelladens im Vorbau des Hauses zusammen, weil sie auf dem Dach über sich einen lauten Knall hören. Diese Szene beschreibt den Tod der Künstlerin Ana Mendieta entlang der Zeugenaussagen. Aber es gibt noch andere Zeugen, die das, was damals passierte, ganz anders beschreiben.

Das Hochhaus, in dem Ana Mendieta und Carl Andre lebten.

In Windeseile waren vier Ordnungshüter am Tatort, alarmiert von einem Notruf, der aus einem Apartment im 34. Stock des Hochhauses kam. Der Anrufer teilte mit, dass seine Frau Selbstmord begangen habe. Auf die Frage des Beamten am anderen Ende der Leitung, was genau passiert sei, sagte der Anrufer: »Was passiert ist, wir hatten – meine Frau ist Künstlerin und ich bin Künstler – wir hatten eine Auseinandersetzung wegen der Tatsache, dass ich stärker im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehe, bekannter bin als sie, und dann ging sie ins Schlafzimmer und ich hinterher und sie ging aus dem Fenster.« Nach einigem Hin und Her wollte der Beamte den Anrufer in der Leitung halten und versuchte zu klären, wie er die wirren Angaben des Anrufers zu deuten habe: »Also, sie ist aus dem Fenster gesprungen, richtig?« »Ja.«

Zwei der Polizisten verloren keine Zeit und suchten den kürzesten Weg dorthin, wo sie die Ursache für den Knall vermuteten. Die vage Hoffnung, dass es womöglich noch ein Leben zu retten gäbe, zerschlug sich, sobald sie das Dach erklommen hatten. Sie fanden die Leiche einer Frau, bekleidet nur mit einem blauen Slip und durch den harten Aufprall auf das flache Dach des Geschäfts schwer entstellt. Die beiden anderen Polizisten klingelten an der Tür der Wohnung, aus der der Anruf in der Notrufzentrale von Manhattan eingegangen war.

Dort öffnete ihnen niemand anderes als Carl Andre (1935–2024), einer der bekanntesten amerikanischen Künstler und neben Donald Judd (1928–1994) und Robert Morris (1931–2018) Mitbegründer der Minimal Art. Er lebte zu diesem Zeitpunkt in dritter Ehe mit der aus Kuba stammenden Künstlerin Ana Mendieta (1948–1985) zusammen. Niemand vermutet hinter den Mauern dieses Hochhauses – eine Manifestation schmucklos-moderner Rasterarchitektur – das Domizil eines Künstlers; und wenn, dann kommt tatsächlich wohl nur einer wie Carl Andre in Frage, dessen Kunst die Nüchternheit dieser Stein gewordenen Absage an jegliches Ornament noch übertrifft.

Raquel Cecilia Mendieta, Filmemacherin und Nichte Ana Mendietas, über das filmische Werk der Künstlerin

Bekannt geworden ist Carl Andre vor allem für seine auf dem Boden ausgelegten Metallplatten, die wie Fliesen in einer begehbaren Formation angeordnet sind. Ihm ging es nicht darum, ein unantastbares Werk zu schaffen, sondern durch seine Kunst Eingriffe im Raum vorzunehmen, den Raum zu verändern, ohne den Betrachter in eine Andachtssituation zu zwingen.

Sein rascher Aufstieg seit Mitte der 1960er Jahre gipfelte in einer Einzelausstellung im Guggenheim Museum – da war Carl Andre gerade mal 35 Jahre alt. Der Künstler gab sich nicht nur äußerlich das Image eines Arbeiters. Der »Hohepriester der Minimal Art«, wie ihn die New York Times einmal genannt hatte, engagierte sich auch für die »Art Workers’ Coalition«, an deren Gründung er 1969 beteiligt war. Diese Vereinigung setzte sich gegen verkrustete Strukturen in der New Yorker Museumslandschaft ein. Unter anderem sollten eingewanderte Künstler und Frauen mehr Chancen bekommen, mit ihren Werken im Museum vertreten zu sein; für das Kunstpublikum sollte es kostenlosen Zugang zur Kunst geben.

Aber Carl Andres Aktivitäten gingen noch weiter und festigten seinen Ruf als prinzipientreuer Künstler. Er gehörte zu den Organisatoren des »Art Strike against Racism, War, and Repression« am 22. Mai 1970 und hielt Reden vor Hunderten streikenden Künstlern, Autoren, ein paar Galeristen und Museumsmitarbeitern auf den Stufen zum Metropolitan Museum. Damals war das gesellschaftliche Klima durch die Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg geprägt.

Keine drei Wochen zuvor, am 4. Mai 1970, waren an der Kent State University in Ohio vier Studenten von der Nationalgarde erschossen, weitere neun schwer verletzt worden – und das nicht etwa im direkten Konflikt, in dem die Gardisten um Leib und Leben hätten besorgt sein müssen. Die Schüsse trafen die Studenten aus großer Entfernung, zum Teil hatten sie mit den Protesten auf dem Campus gar nichts zu tun. Und fernab von Ohio, in New York, wollten die meisten Künstler der Stadt ebenfalls nicht protestieren, sondern vor allem eines: in Ruhe an ihrer Kunst arbeiten. Kaum jemand hätte hinter der spröden Kunst eines Carl Andre einen engagierten und politisch interessierten Künstler vermutet. Denn schließlich behielt seine Kunst und die der anderen Minimalisten einen elitären Nimbus trotz aller Bemühungen, traditionelle Werkauffassungen abzuschütteln und die Arbeiten ohne die üblichen sakralen Einschüchterungsgesten zu feiern.

Der große, massige Mann hatte also einen enormen Nimbus in der Kunstszene. Auf die beiden Beamten, die vor der Tür des Apartments standen, machte er mit seinem dichten Vollbart und seiner blauen Latzhose aber vor allem einen verwirrten Ausdruck. Die Kunstkritikerin Barbara Rose hatte Andres Erscheinung mal als eine Mischung aus Gustave Courbet (Latzhose) und Claude Monet (Bart) bezeichnet. Solche Assoziationen dürften den beiden Polizisten fremd gewesen sein. Sie begegneten dem Künstler mit höflicher Strenge, nachdem sie bei ihm an Nase und Unterarm frische, sickernde Kratzwunden entdeckt und ein wildes Chaos im Schlafzimmer gesehen hatten. Später bemerkten sie eine dritte Wunde unterhalb von Andres Nacken.

Der Künstler verstrickte sich in zahlreiche Widersprüche und machte allerhand kryptische Bemerkungen. Entgegen seiner Aussagen am Telefon behauptete er nun, dass er und seine Frau Ana Mendieta einen ruhigen Abend zu Hause verbracht und sich im Nachtprogramm des Fernsehens einen alten Katharine-Hepburn-Film angesehen hätten. Ana sei vor Ende des Films im Schlafzimmer verschwunden, und als er nach dessen Schluss eine halbe Stunde später ebenfalls ins Schlafzimmer gegangen sei, habe er gesehen, dass Ana nicht mehr da war und das Fenster weit offen stand.

»Vielleicht habe ich was falsch gemacht. Sie wollte ins Bett. Ich wollte fernsehen … Ich weiß nicht, vielleicht hätte ich mit ihr ins Bett gehen sollen, wenn es das war, was sie wollte. In diesem Sinne habe ich sie vielleicht ermordet.« Auch die frischen Kratzer an seinem Körper konnte Andre nicht glaubhaft erklären. Er behauptete, sie stammten von seiner Balkontür, die ihm vor über einer Woche durch eine Windböe ins Gesicht geschlagen sei – zu einem Zeitpunkt, wo er noch in Rom weilte. Freunde des Paares, die am Abend zuvor mit den beiden essen waren, konnten sich an keine Kratzwunde in Andres Gesicht erinnern.

Ana Mendietas Freunde und Verwandte gaben später einhellig zu Protokoll, dass die Künstlerin für ihre Höhenangst bekannt war und sogar das Betreten gut gesicherter Balkone mied. »Sie öffnete niemals ein Fenster«, erinnerte sich eine Freundin. Am Tatort lehnte sich einer der Polizisten aus dem Fenster und rief seine Kollegen, die noch immer auf dem Vordach bei der Leiche standen. Sofort drehten sie ihre Köpfe in seine Richtung, was die Aussage des Portiers bekräftigte, dass sich das Fenster, aus dem Ana Mendieta unter welchen Umständen auch immer in den Tod stürzte, trotz der Höhe in Rufweite zur Straße befand.

Die Nachbarn bestätigten, dass es häufig lauten Streit beim Künstlerpaar gegeben habe, einer hörte auch kurz vor Anas Sturz einigen Lärm aus dem Schlafzimmer durch die Trennwand dringen. Carl Andre hingegen bemühte sich, die junge Ehe der beiden in heiteren Farben zu schildern – ihr privilegiertes Leben als erfolgreiche Künstler mit Geld, ihrem zweiten Apartment in Rom und dem neuen Auto, das er Ana Mendieta gerade erst geschenkt hatte. Den Verdacht der Polizei, dass Carl Andre seine Frau ermordet habe, konnte das jedoch kaum abschwächen, denn warum sollte sich die Künstlerin dann in den Freitod stürzen?

Dass die als lebenslustig und optimistisch geltende Ana Selbstmord begangen habe, konnte sich niemand ihrer Freunde und Bekannten vorstellen. Im Zuge seiner Vernehmung verfasste Andre eine offizielle Aussage in schriftlicher Form, in der er eine Version des Abends skizzierte, die bereits bestehende Widersprüche in den Aussagen durch vage Formulierungen zu glätten versuchte. Nun war nicht mehr von einem Selbstmord seiner Frau, sondern von einem Unfall die Rede. Der Anruf bei der Polizei sei irgendwann später erfolgt als »ich die schreckliche Ahnung hatte, dass Ana aus dem Fenster gefallen war«. Zu diesem Zeitpunkt, knapp zwölf Stunden nach der Tat, glaubten die Polizisten noch, dass Andre aus Verzweiflung darüber, seine Frau umgebracht zu haben, Spielchen mit ihnen trieb und dass er unter stärkerem Druck den Mord gestehen würde.

Für sie schien es ein recht klarer Fall zu sein – einer von so vielen, bei denen nicht erst eine ganze Armada von Spezialisten dem Mörder auf die Schliche kommen muss, sondern der Täter selbst die Polizei ruft. Doch womöglich wurden sie Zeugen eines ganz anderen Prozesses, der die Wahrheit über Ana Mendietas Tod für immer verschwinden ließ. Dieser Vorgang lässt die Grenzen zwischen Fiktion und Realität allein schon durch den Versuch verwischen, etwas in Worte zu fassen. Diese Worte wiederum haben einen starken Einfluss darauf, was wir für die Realität halten. So geht es natürlich auch Mordverdächtigen, die bestrebt sind, eine für sie strafmildernde Version des Tathergangs zu finden, und diese Version verfestigt sich im Lauf der Zeit zur ›Wahrheit‹.

Die naive Vorstellung, dass ein Mörder zu Lebzeiten durch die schwere psychische Last seiner Tat nicht mehr glücklich werden kann, ist so verbreitet wie falsch. Ein kurzer, eruptiver Ausbruch von tödlicher Gewalt seitens eines sonst durch und durch zivilisierten Individuums kann in dessen Erinnerung zu einem langsam verblassenden Störfall geraten, oder durch eine neu kreierte Version des Ereignisses, die es sich immer wieder selbst einredet, gar völlig auflösen. Die beliebte Mär, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht komme, kontrastiert mit der Erfahrung, dass die menschliche Psyche ein tiefer See ist, in dem man viele Leichen versenken kann.

Nach der Befragung von Ana Mendietas Vertrauten ergab sich vom Zusammenleben des Künstlerpaares ein ganz anderes Bild als das, was Andre bemüht war zu zeichnen. Die Künstlerin hatte wohl Pläne, die nur sieben Monate währende Ehe mit ihm wieder scheiden zu lassen; zu sehr belasteten die vielen Affären von Carl Andre das Miteinander. Neben einer jungen Künstlerin, die in der Paula Cooper Gallery als Assistentin jobbte, war es vor allem eine längere Affäre mit einer deutschen Kunstbuchlektorin aus Berlin, die Ana Mendieta auf die Palme brachte.

Eine Berliner Affäre

Die Berlinerin schickte Carl Andre peinliche Postkarten und Nacktaufnahmen. Seit 1979 waren Carl Andre und Ana Mendieta ein Paar, das sich immer wieder trennte und versöhnte. In einem Telefongespräch, das die Künstlerin noch am Abend vor ihrem Tod mit einer Freundin führte, berichtete sie von ihrem Plan, einen Scheidungsanwalt aufsuchen zu wollen. Aufgebracht erzählte sie von Dokumenten, die sie kopiert und in der Wohnung deponiert habe. Diese Dokumente, die erwähnte Korrespondenz, Fotos, Flugtickets, Telefon- und Hotelrechnungen, würden die Affären ihres Mannes belegen.

Mehrmals musste Ana Mendieta während des Gesprächs von ihrer Freundin ermahnt werden, nicht zu laut zu werden und besser in Spanisch weiter zu sprechen, denn sie wusste, dass Andre nur wenige Meter entfernt im Nachbarzimmer saß. Sie gab Ana Mendieta auch den sicher gut gemeinten Rat, nicht gleich alles an die große Glocke zu hängen, und stattdessen mit ihrem Mann darüber zu reden. Ob das womöglich ein verhängnisvoller Ratschlag war und es zu einer Aussprache an diesem Abend kam?

Das komplizierte Heranwachsen von Ana Mendieta

Ana Mendieta war zum Zeitpunkt ihres Todes 36 Jahre alt. Als Zwölfjährige war sie mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Raquel wie so viele Kinder aus Kuba in die USA gekommen. Die Karibikinsel, seit ihrer Unabhängigkeit von Spanien 1903 in der engeren Einflusssphäre der Vereinigten Staaten, wird seit der Revolution von 1959 sozialistisch regiert. Auf Betreiben der US-amerikanischen Kirche wurden bei der Operation »Pedro Pan« zwischen Ende 1960 und Herbst 1962 über 14.000 Kinder von Kuba in die Vereinigten Staaten ausgeflogen. Zuvor hatten amerikanische Geheimdienste gezielt Falschinformationen gestreut, nach denen der sozialistische Staat beabsichtige, die Kinder des kubanischen Bürgertums in Heimen zu internieren und im Geist der Revolution zu erziehen. Die Eltern indes bekamen keine Ausreiseerlaubnis und mussten auf Kuba bleiben.

»Ich bin in einem Waisenheim in Iowa aufgewachsen und von meinem Land und meiner Kultur abgeschnitten worden«, resümierte Ana Mendieta ihre Jugend in den USA. Anfang der 1970er Jahre machte sie mit feministischer Body Art auf sich aufmerksam, mit der bereits im Jahrzehnt davor ihre Freundin Carolee Schneemann (1939–2019) über die Kunstwelt hinaus bekannt geworden war. Noch als Studentin lud Ana Mendieta beispielsweise die Kommilitonen in ihr Atelier ein, ohne zu verraten, was sie dort erwarten würde. Als sie eintraten, sahen sie die Künstlerin von der Hüfte abwärts nackt auf einen Tisch gefesselt. Blut tropfte aus ihrer Körpermitte und von den Oberschenkeln herab auf den Boden, was die Assoziation einer gerade stattgefundenen Vergewaltigung aufdrängte.

In Mexiko inszenierte Ana Mendieta in der so genannten Silueta Serie ihren Körper in spiritueller Eintracht mit der Natur. Dazu gehörten Liegeproben in passgenauen Erd- und Steinvertiefungen und die Beschäftigung mit alten rituellen Praktiken der mexikanischen Kultur. Bei einem Besuch in Kuba 1981, sie war einer Einladung der kubanischen Regierung gefolgt, hinterließ sie dort vor den Toren Havannas mehrere Skulpturen und Felszeichnungen im Jaruco-Nationalpark. Nach einem Rom-Stipendium gewann die Künstlerin ein weiteres vom Guggenheim Museum; mit ihrer Karriere ging es steil aufwärts.

Wie ging es nach dem Tod von Ana Mendieta weiter? Nach ein paar Stunden Schlaf auf dem Revier verweigerte Carl Andre jede weitere Aussage. Er wurde von der Polizei in Untersuchungshaft genommen. Die Kaution wurde auf eine Viertel Million Dollar festgesetzt – eine Summe, die selbst erfolgreiche Künstler wie Carl Andre nicht unbedingt auf dem Girokonto haben. Während die Arbeit seiner Frau sich immer größerer Wertschätzung erfreute, wirkte seine Kunst schon historisiert und zog kaum noch neue Sammler an. Auch für Kuratoren, die immer nach dem nächsten großen Ding Ausschau halten, war Andres Kunst in den 1980er Jahren vor allem eins: ziemlich spröde und alles andere als ein Garant für entzückte Ausstellungsbesucher. Die 1980er Jahre waren durch die neoexpressionistische Kunst eines Julian Schnabel (geb. 1951) und die monumentalen Gemälde und Skulpturen Anselm Kiefers (geb. 1945) geprägt.

Was denken Ausstellungsbesucher über Carl Andres Werk?

Nichtsdestotrotz hatten es Concept und Minimal Art bereits ins Museum geschafft. Immerhin blieben Andre so eine gewisse internationale Aufmerksamkeit über Ausstellungsbeteiligungen (vor allem in Europa) und Verkäufe an konservative und sicherheitsorientierte Sammler. Dennoch hatte sich das Gericht gegen das Angebot verwahrt, Werke des Künstlers als Kaution anzunehmen; und so wurde der Mordverdächtige nach Rikers Island gebracht – mit rund 15.000 Häftlingen einer der weltweit größten Gefängniskomplexe auf einer Insel nordöstlich von Manhattan im East River gelegen.

Die Gefängnisinsel New Yorks – Rykers Island (Quelle: wikimedia)

Carl Andres Galeristin und weitere Freunde setzten nun alle Hebel in Bewegung, um das Geld so schnell wie möglich an die Behörden zu übergeben, damit er nicht länger in dem berüchtigten Gefängnis sitzen musste. Hilfe bot auch Andrew Crispo an, der in jenen Tagen das dringende Bedürfnis hatte, sein Image aufzupolieren. Gern hätte er die Kaution für Carl aufgebracht, um sich in der Kunstwelt zurückzumelden. Mehr über diese berüchtigte Figur der New Yorker Kunstszene hier.

Carl Andre konnte nun zwar jede Hilfe gebrauchen, doch in der ersten Reihe stand sein alter Freund und Weggefährte aus Schulzeiten, Frank Stella (geb. 1936), der noch vor ihm in die Riege international beachteter Künstler aufgestiegen war. Einige Jahre hatten die beiden Seite an Seite in einem gemeinsamen Atelier gearbeitet. Frank Stella brachte Andre auf die Idee, unberührtes Material zum Bestandteil seiner Werke zu machen. Er beteiligte sich an der Kaution, die den Künstler nach einer Nacht auf Rikers aus dem Knast holte.

Entzweite Kunstwelt

Natürlich wurde der Tod von Ana Mendieta und die mögliche Schuld von Carl Andre auch in der Kunstwelt heftig diskutiert. Zeitweise bildeten sich unter den Künstlern feindlich gesonnene Lager. Auf jeder Vernissage, in jedem Gespräch bildeten die Spekulationen über die Vorfälle jener Nacht und Andres Schweigen dazu immer wieder Anlass für heftigen Streit. Freundschaften zerbrachen. Für die ehemaligen Weggefährten Ana Mendietas war es Mord und damit krassester Ausdruck für die traditionelle Unterdrückung von Frauen in der bildenden Kunst und Künstler bzw. Künstlerinnen, die aus den Peripherien des Westens stammen.

Carolee Schneemann erkannte hier die »traditionellen Hierarchien einer männlich geprägten Kultur«. Das Lager der etablierten Größen im Kunstzirkus jedoch verhielt sich weitgehend solidarisch mit Carl Andre, dessen Ruf als linksengagierter Bildhauer-Poet sich überhaupt nicht mit einer brutalen Mordtat vertrug. Allerdings gab es immer wieder Gerüchte über seine Neigung zu Gewaltausbrüchen. Für Belege oder vor Gericht verwendbare Aussagen reichte dies aber nicht. Alle Bestrebungen, Licht in den Fall zu bringen, wurden vom Carl Andre-Lager als Angriff auf den durch den Verlust seiner Frau schon genug leidenden Künstler interpretiert und mit eisigem Schweigen beantwortet.

Die lesenswerte Reportage von Robert Katz über Ana Mendieta und ihren gewaltsamen Tod ist leider nur auf Englisch erschienen.
Das Buch von Robert Katz zeigt viele Bilder aus Ana Mendietas Leben (Leseansicht)

Der Autor Robert Katz (1933-2010), der damals Informationen für seine Buchreportage zum Tod von Ana Mendieta sammelte, erinnert sich: »Ich hatte die Verschlossenheit der Kunstwelt unterschätzt, wo der Argwohn gegenüber Fremden lange vor meiner Zeit tiefe Wurzeln geschlagen hat; diese alten Jungs und Mädels halten sich strenger an die Omertà, als die Cosa Nostra selbst.«

Das traditionelle Unverständnis mancher Medien gegenüber zeitgenössischer Kunst spielte hier genauso hinein wie die sich aus den Erfahrungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre speisende Skepsis gegenüber allen staatlichen Institutionen. Was andere Journalisten mehr irritierte, war die Tatsache, dass sich die gerade erst gegründete und mit spektakulären Plakataktionen auftretende Künstlergruppe der Guerilla Girls zu Mendietas Tod nicht äußerte.

Das bekannteste Plakat der Gruppe, die sich selbst als »Gewissen der Kunstwelt« bezeichnete, fragt provokant und mit beißendem Humor hinsichtlich der vielen Akte alter Meister: »Müssen Frauen nackt sein, um ins Museum zu kommen?« Nun mussten sich die Mitglieder der legendären Gruppe, die im Schutz der Anonymität agierten und angetreten waren, gegen Rassismus und Sexismus in der bildenden Kunst anzugehen, fragen lassen, ob sie etwa dem Carl Andre-Lager zugehörten und deshalb zum Tod Ana Mendietas schwiegen. Bewahrte Carl Andres alter Aktivistennimbus ihn davor, ins Visier der Guerilla Girls zu geraten? Oder war gar Ana Mendietas – durch ihre kubanische Abstammung bedingten – Status als Außenseiterin im weiß dominierten Kunstbetrieb ausschlaggebend?

Jeder, der schon mal eine der vor einigen Jahren so beliebten »Crime Scene Investigation«-Serien aus Hollywood gesehen hat, wird sich denken, dass es ein Leichtes gewesen sein muss, den wahren Tathergang zu rekonstruieren. Unter Ana Mendietas Fingernägeln müsste sich das Blut des Täters finden lassen, Fingerabdrücke und die Unordnung am Tatort müssten eindeutige Hinweise geben können. In Wirklichkeit sind die Möglichkeiten aber wesentlich beschränkter.

Das Blut unter Ana Mendietas Fingernägeln war damals durch die Verunreinigung mit Dreck vom Dachbelag nicht mehr analysierbar, und die Polizisten hatten den Tatort durch die eigene Unachtsamkeit stark beeinträchtigt. Sie spazierten in die Wohnung, verschoben Gegenstände, hinterließen ihre Fingerabdrücke und vergaßen, die Leiche an Ort und Stelle zu fotografieren. Und auch die Tatsache, dass in Ana Mendietas Blut ein nicht unbeträchtlicher Alkoholgehalt nachgewiesen werden konnte, ließ viel Interpretationsspielraum für den Verlauf des Abends.

Schwere Fehler von Staatsanwaltschaft und Polizei

Gut zweieinhalb Jahre danach kam es zum Prozess gegen Carl Andre. Die Anklage lautete auf »Mord mit bedingtem Vorsatz«. Wegen Fehlern der Staatsanwaltschaft und der Polizei hatte es große Probleme gegeben, den Fall überhaupt vor Gericht zu bringen. Vor allem die Unachtsamkeit der Polizei führte dazu, dass die Erkenntnisse der Spurensicherung, zum Beispiel das Fehlen jeglicher Fuß- oder Fingerabdrücke von Ana Mendieta auf Fensterbank und Klimaanlagenabdeckung, nicht zum Prozess zugelassen wurden. Unpräzise Formulierungen im Durchsuchungsbefehl für die Wohnung ermöglichten es Carl Andres Anwalt, die Verletzung der Rechte seines Mandanten geltend zu machen.

Zu allem Überfluss fanden sich viele Aussagen der Polizisten anlässlich der Voranhörungen zum Prozess nicht in deren Berichten wieder, woraus die Verteidigung wiederum Widersprüche herleiten konnte. Alle Hinweise, die Anas Scheidungsabsichten betrafen, durften ebenfalls nicht verhandelt werden. Der Grund dafür: Es konnten keinerlei Beweise vorgelegt werden, dass Andre von den Scheidungsabsichten seiner Frau wusste. Das »Mordmotiv« basierte also lediglich auf Hörensagen und wäre damit gegenüber dem Angeklagten eine reine Unterstellung gewesen.

Nichts von all dem, was sich um das Thema Ehebruch und Ana Mendietas Pläne drehte, konnte beim Prozess gegen den Künstler verwendet werden. Erst nach dem Prozess konnte Robert Katz für seine Reportage rekonstruieren, warum das Motiv im Puzzle der Wahrheitsfindung fehlen musste. Die Polizei nahm Carl Andre nach ihrem Erscheinen am Tatort zwar mit aufs Revier, sie verhafteten ihn jedoch nicht sofort.

Als freier Bürger konnte er im Polizeigebäude noch am Nachmittag nach Ana Mendietas Tod einem Freund seine Wohnungsschlüssel geben, der sich gegenüber den Behörden nicht einmal ausweisen musste. Die Durchsuchung der Wohnung fand aber erst am Montagabend statt – genug Zeit also für den ominösen Unbekannten, um wichtige, Andre belastende Unterlagen Anas zu beseitigen.

Carl Andres cleverer Schachzug

Doch in der Vorverhandlung zum Prozess sollte es noch dicker kommen. Denn Carl Andre ließ von seinem Verteidigerteam um Jack S. Hoffinger, einem der damals besten Strafverteidiger der Vereinigten Staaten, verkünden, dass er auf sein Recht verzichte, den Fall vor einer Jury Geschworener verhandeln zu lassen. Er legte damit sein Schicksal vollständig in die Hände von Richter Alvin Schlesinger. Gelegenheit, den Richter kennenzulernen, bekam Carl in den Vorverhandlungen, und seine Menschenkenntnis mag ihn nicht getäuscht haben, gehörte der vierundsechzigjährige Schlesinger doch zu den liberalsten Richtern in New York – ausgestattet nicht nur mit einen gewissen Sinn für moderne Kunst, sondern auch mit einer sozialen Ader.

Als Direktor der »Fortune Society«, einem Rehabilitationsprogramm für Kriminelle, war für ihn ein Grundsatz der Rechtsprechung mehr als nur ein Lippenbekenntnis: »Im Zweifel für den Angeklagten«, oder: »Lieber hundert Schuldige freisprechen, als einen Unschuldigen verurteilen.«

Als wohlhabender weißer Künstler, der des Mordes an seiner kubanischstämmigen Frau beschuldigt wurde, konnte Carl Andre die Aussicht, von einer sozial und ethnisch bunt gemischten Jury gerichtet zu werden, nicht besonders Erfolg versprechend erscheinen – zumal der Künstler durch seinen etwas verschrobenen Charakter und sein wenig Vertrauen erweckendes Äußeres auch keinen Sympathiebonus erwarten konnte. Wenn also jemand auch nur den geringsten begründeten Zweifel an seiner Schuld finden würde, dann wäre das Richter Schlesinger, so das Kalkül.

Weitere Umstände begünstigten, dass Andres Mordprozess beinahe so leise über die Bühne ging wie die Verhandlung eines Steuerdelikts. Die meisten der 128 Besucherplätze im Gerichtssaal des State Supreme Court in Manhattan während der Verhandlung im Januar und Februar 1988 blieben frei. In der Zeitrechnung der Medien und vor allem der Sensationspresse lag Ana Mendietas Tod mit zweieinhalb Jahren schon eine halbe Ewigkeit zurück.

Die Staatsanwältin Elizabeth Lederer verspürte zunächst wohl keinen großen Eifer, den Carl Andre-Fall von einer Kollegin zu übernehmen. Sie sah sich nicht nur der einschüchternden Macht eines renommierten Verteidigerteams gegenüber, sondern auch um einige viel versprechende Indizien beraubt, die nicht zum Prozess zugelassen wurden; die Autorität des wichtigsten Zeugen – dem Pförtner, der die Schreie gehört hatte – wurde durch ein Leiden als Folge seines Einsatzes in Vietnam untergraben.

Er wurde in den 1970er Jahren wegen einer Psychose behandelt, die von akustischen Halluzinationen begleitet wurde. Auch wenn der Pförtner schon über fünf Jahre symptomfrei war und seine Angaben zu den Schreien, die er in der Nacht von Ana Mendietas Tod gehört hatte, sehr präzise waren: ein Einfallstor für die Verteidigung, sein Hörvermögen anzuzweifeln, selbst wenn ein Mitarbeiter des Lebensmittelladens auch von einem Schrei zu berichten wusste, den er Sekunden vor dem Aufschlagen von Ana Mendietas Körper auf dem Dach gehört hatte.

Staatsanwältin Lederer konnte sich nicht so recht auf ihrem Fall einlassen – bis sie die Gelegenheit hatte, selbst ein Fenster vor Ort zu besichtigten, das exakt dem entsprach, durch das Ana Mendieta in den Tod gestürzt war. Ana Mendieta, so schien es der Staatsanwältin, müsste – ihre kleine Statur eingerechnet – regelrecht hoch gefallen sein, um dann noch über immerhin gut 45 Zentimeter Breite von Fensterbrett und Abdeckung der Klimaanlage hinaus in die Tiefe zu stürzen. Für die Staatsanwältin war der Fall nun klar. Aber konnte sie Zweifel ausräumen, die bleiben, wenn es keinen Augenzeugen und kein Geständnis gibt?

Die schmutzigen Tricks der Anwälte

Andres Anwalt Hoffinger und dessen Team jedenfalls leisteten ganze Arbeit, um Zweifel an der Mordversion der Anklage zu säen. Dabei scheuten sie sich auch nicht davor, die schmutzigste Strategie anzuwenden. Ana Mendietas schwule und lesbische Freunde wurden als Belege für ein exzentrisches Leben und eine verheimlichte Homosexualität angeführt. Ihre Kunst wurde für die abenteuerliche Version eines unabsichtlichen Selbstmordes (»subintentional suicide«) herangezogen. Andres Anwalt zitierte ihre Performances, in denen sie sich in Bodenvertiefungen mit ihren Umrissen legte oder jene, in denen sie den Eindruck von aus ihrem Körper fließenden Blutes erzeugte.

Doch die widersinnigste Attacke, die Mordanklage zu unterminieren, wurde mit Hilfe eines durchgeknallten kubanischen Bekannten der Künstlerin geritten. Jener behauptete im Zeugenstand, Ana Mendieta habe sich in ihrer Beschäftigung mit Voodoo selbst einen Fluch auferlegt, der sich – gerufen von der Santera Yemayá (dem Äquivalent der heiligen Maria im kubanischen Volksglauben) – mit einem Flug aus dem Fenster selbst erfüllt habe.

Am 11. Februar 1988, nach drei Verhandlungswochen, verkündete Richter Alvin Schlesinger schließlich sein Urteil. Es lautete auf Freispruch, weil, so der Richter, »die Beweise mich nicht über den begründeten Zweifel darüber, dass der Angeklagte schuldig ist, befriedigen konnten«. Andres Anwalt ließ entsprechend eines umstrittenen New Yorker Gesetzes für Kriminalprozesse alle Akten zu dem Fall versiegeln und sorgte so im Sinne seines Mandanten dafür, dass alle Fakten zu dem Fall fortan der Öffentlichkeit entzogen blieben.

Als sich die wenigen Medienvertreter, die sich anlässlich der Urteilsverkündung dann doch eingefunden hatten, um den Künstler und seine Anwälte scharten, beobachtete Robert Katz, der dem gesamten Prozess für seine Recherchen beigewohnt hatte, wie die Künstlerin Barbara Kruger (geb. 1945) sich ihren Weg zu Carl Andre bahnte und sarkastisch bemerkte: »Herzlichen Glückwunsch, Carl! Das ist die beste Presse, die du seit zehn Jahren hattest.«

Performance in Erinnerung an Ana Mendieta und Protest gegen Carl Andre. (Foto von Jillian Steinhauer)
https://hyperallergic.com/127500/artists-protest-carl-andre-retrospective-with-blood-outside-of-diachelsea/

Trotz der vielen Jahre, die seit dem Tod Ana Mendietas vergangen sind, bleibt der Fall zumindest in der us-amerikanischen Kunstszene präsent. Nur ein Beispiel von mehreren: 2014 wurde eine Performance zur Erinnerung an die Künstlerin mit Protest gegen eine Retrospektive von Carl Andre in der Dia Art Foundation verbunden.

Die Umstände von Ana Mendietas Tod sind bis heute ungeklärt und man darf bezweifeln, dass Carl Andres Tod daran etwas ändern wird.

Wenn Leute mich fragen, was meine Kunst ausdrückt,
kann ich nicht anders als daran denken,
was wohl der Grabstein zur Leiche darunter sagt.
Carl Andre

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