documenta fifteen – was erwartet uns?

documenta fifteen – so heißt offiziell die nächste Großausstellung in Kassel. Exakt 24 Monate vor dem geplanten Start der nächsten documenta, stellte das Kuratorenteam Ruangrupa sein Konzept und wesentliche Mitwirkende für das alle fünf Jahre neu aufgelegte Megaprojekt in der nordhessischen Stadt vor. Noch nie war so wenig über eine kommende documenta bekannt. Die Vorbereitungen waren wegen Corona ins Stocken geraten. Zeitweilig dachten viele, dass die Schau verschoben wird.

Leitbegriff ist der indonesische Ausdruck „Lumbung“, der buchstäblich „kollektiv verwaltete Reisscheune“ bedeutet, im übertragenden Sinne aber für gemeinschaftliches, nachhaltiges und verantwortungsvolles Handeln steht.

documenta fifteen – das Ruru-Haus: offizielles Hauptquartier im früheren “Sport-Arena” Kaufhaus in Kassel.
(Aufnahme während des ersten Corona-Lockdowns im März 2020). Bis zum zweiten Lockdown waren vereinzelt Veranstaltungen mit Ruangrupa-Mitgliedern und Kasseler Kulturinitiativen möglich.

Nach dem „Lumbung“-Prinzip sollen in Kassel und weltweit Künstlerkollektive und soziokulturelle Zentren tragende Teile der documenta fifteen werden. Vierzehn derartige Gruppen wurden nominiert. Sie soltlen nach dem Schneeballsystem weitere Gruppen und Institutionen rekrutieren. Selbstorganisation, alternative Ökonomiemodelle und ein lokaler Bezug werden von Ruangrupa als Bedingungen für die Teilnahme formuliert, ganz nach dem eigenen Vorbild ihres „Gudskul“-Kulturzentrums in Jakarta. Als einzige deutsche Einrichtung ist das Berliner „Zentrum für Kunst und Urbanistik“ (ZK/U) dabei. 

Das ZK/U, das in der innerstädtischen Peripherie im Moabiter Norden angesiedelt ist, betreibt Stadtteilkulturarbeit, bietet ein breites Spektrum an Veranstaltungen an und schreibt international Künstlerateliers aus.

Das Ambiente eines tristen Lagerschuppens: Das ZK/U in Moabit

Weitere „Lumbung members“ sind: „Inland“ (Spanien), die Off-Biennale Budapest, das „Trampolin-House“ Kopenhagen (es wurde mittlerweile geschlossen, doch die Gruppe will bei der documenta trotzdem mitwirken), die indonesischen „Jatiwagi Art Factory“ und Gudskul sowie Institutionen aus Mali (Fondation Festival sur le Niger), Palästina (Khalil Sakakini Cultural Center) und Kolumbien (Más Arte Más Acción). Nach intensivem Austausch zwischen ihnen und dem Artistic Team sowie zahlreichen Gesprächen mit den teilnehmenden Organisationen kamen 2020/21 weitere lumbung-member hinzu: Britto Arts Trust (Dhaka, Bangladesch), FAFSWAG (Auckland, Aotearoa), Instituto de Artivismo Hannah Arendt (Havanna, Kuba), Project Art Works (Hastings, Vereinigtes Königreich) und Wajukuu Art Project (Nairobi, Kenia). Ende 2020 musste das Trampoline House, das seit Juni 2020 lumbung-member der documenta fifteen ist, nach 10-jährigem Bestehen dauerhaft schließen, es soll aber als Gruppe weiterhin am Entstehungsprozess der documenta fifteen beteiligt werden. Es ist zu erwarten, dass die konventionelle Kunstproduktion einzelner Künstler und Künstlerinnen, der Kunsthandel und Privatsammler bei dieser documenta eine weniger prominente Rolle spielen, stattdessen könnten interdisziplinäre Künstlerkollektive, Organisationsdebatten und Bildungsarbeit weiten Raum einnehmen.

Beliebt in der Nachbarschaft in Nord-Moabit: Urban Gardening als Langzeitprojekt des ZK/U

Das „Ruru-Haus“ als Kernstück der documenta fifteen

Darauf deutet auch die Beschreibung des designierten Kernstücks der documenta, des sogenannten Ruru-Hauses hin. In dem lange leerstehenden früheren Sportartikelkaufhaus an der zentralen Kasseler Einkaufstrasse sollten eigentlich seit Frühjahr 2020 Initiativen rund um die documenta ihre Arbeit vorstellen. Vor allem aber sollten Künstler, Studenten und Aktivisten vor und während der documenta fifteen im Ruru-Haus gemeinsam „Nongkrong“ praktizieren, der indonesische Ausdruck für „abhängen“, „herumgammeln“ oder neudeutsch „chillen“.

Schon vor Beginn der documenta chillten die Kasselaner gerne vor dem Ruru-Haus.

Als die documenta-Findungskommission im vergangenen Jahr bei der Nominierung von Ruangrupa ankündigte, erstmalig den frischgebackenen Kuratoren als „Beirat“ weiterhin zur Seite zu stehen, hatte dies für Aufsehen gesorgt und den Verdacht genährt, dass die Kommission der indonesischen Gruppe doch nicht ganz zutraute, eine documenta zu leiten. Zur Findungskommission, die die Leitung der documenta fifteen bestimmte, gehörten u. a. Charles Esche, Direktor des Van-Abbe-Museums Eindhoven, und Philippe Pirotte, damals Rektor der Frankfurter Städelschule.

Der von ihnen „gefundene“ Ade Darmawan ist Geschäftsführer der Djakarta Kunstbiennale. Pirotte gehörte zum Kuratorenteam der Jakarta-Biennale 2017 und Esche kuratierte die Jakarta-Biennale 2015. So wäscht eine Hand die andere im globalen Kunstbetrieb der Gegenwart. Nunmehr hat Ruangrupa für die eigentliche kuratorische Arbeit ein überwiegend aus Europäern bestehendes „Artistic Team“ aufgestellt, darunter die dänische Kuratorin Frederikke Hansen, die Niederländerin Gertrude Flentge, die Palästinenserin Lara Khaldi sowie zwei Frauen aus Kassel, die der documenta schon lange als Insiderinnen und wichtige Mitwirkende verbunden sind: Die Kunstvermittlerin Ayse Gülec und die Kuratorin Andrea Linnenkohl, letztere rückte aus der zweiten Reihe nunmehr zum „General Coordinator der documenta fifteen“ auf.

In Kassel soll neben dem Ruru-Haus das Museum Fridericianum nach bewährter Art das Zentrum der Schau bilden, den üblichen documenta-Mustern „künstlerischer Interventionen in sozialen Brennpunkten“ folgten auch angekündigte Spielorte in der Kasseler Nordstadt und der östlichen Vorstadt Bettenhausen (etwa das leerstehende Hallenbad Ost, die ehemalige General Electrics Fabrik oder das Kulturzentrum Agathof) sowie in sozialen Einrichtungen und Krankenhäusern. Ob bei dieser documenta überzeugende und künstlerisch wertvolle Werke gezeigt oder produziert werden, bleibt abzuwarten – wie bei jeder documenta sind Prognosen schwerlich möglich. Einladungen zur documenta, die im Herbst 2020 an Künstler und Kuratoren gemailt wurden, erwiesen sich als anonymer Prank, siehe hier. Am 4. Oktober 2021 veröffentlichte ruangrupa in der Obdachlosen-Zeitung Asphalt-Magazin eine offizielle Liste der nominierten Teilnehmer und Gruppen, zusammen mit den Zeitzonen, in denen sie leben und arbeiten. Für das Laienpublikum sind keinerlei bekannte Namen dabei, einzig der in Europa lebende Amerikaner und mehrfache documenta-Teilnehmer Jimmy Durham. Die Teilnehmerliste sah im Herbst 2021 so aus:

Die documenta fifteen soll planmäßig stattfinden

Die weltweite Lähmung des Kulturbetriebs durch die “Pandemie”-Maßnahmen behinderte auch massiv die Vorbereitung der documenta fifteen, wie die Generaldirektorin Sabine Schormann im Herbst 2020 in einem Interview schilderte:

“Hier kann ich nur den Hut ziehen vor der Künstlerischen Leitung und dem Artistic Team, die seit März so gut wie ausschließlich im digitalen Raum unterwegs sind und unendlich viele Zoom-Konferenzen umsetzen, auch digital Ateliers besuchen und mit den „Lumbung-Members“ konferieren. Sie bringen die Themen mit Engelsgeduld, hoher Energie und großer Leidenschaft voran. Aber Sie können sich vorstellen, dass das persönliche Gespräch nicht komplett zu ersetzen ist.”

Generaldirektorin der documenta GmbH Sabine Schormann

Ein knappes Jahr vor dem geplanten Beginn der „documenta fifteen“ wuchsen die Zweifel, ob die Schau überhaupt stattfinden kann. Doch im Juli 2021 hat die documenta-Leitung bekräftigt, die Weltausstellung wie vorgesehen vom 18. Juni bis zum 25. September 2022 in Kassel zu zeigen.  Die hessische Wissenschafts- und Kunstministerin Angela Dorn (GRÜNE) dankte den Beteiligten ausdrücklich für ihr bisheriges Engagement.

Sie glaubt, „dass die Pandemie die documenta extrem prägen wird“, nicht nur durch Hygiene-Massnahmen, sondern auch durch die inhaltliche, künstlerische Bewältigung der Corona-Zeit. Sie hofft, dass die documenta künstlerische Antworten auf die gesellschaftlichen Fragen liefert, die die Pandemie aufwirft – gerade im Blick auf globale Gerechtigkeit.

Das wäre tatsächlich eine Chance, der Ausstellung mehr inhaltliche Relevanz zu verschaffen, schließlich hat die Pandemie gerade auf politischer und ökonomischer Ebene gezeigt, dass sich die Welt rasch und in extremer Weise verändert, und die bisherigen Antworten der Kunst darauf waren schwach und farblos. 

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