Alle fünf Jahre gibt es eine neue documenta. 2022 steht die 15. Ausgabe an. Höchste Zeit, sich auf das Kunstereignis und Kassel als Austragungsort vorzubereiten. Warum ist es sinnvoll, eine Großveranstaltung der zeitgenössischen Kunst in einer so schmucklosen Stadt stattfinden zu lassen? Welche Rituale kommen mit jeder Ausgabe wieder zur Aufführung?
Jedesmal sind anreisende Kunstfreunde und Journalisten darüber verwundert, warum die documenta ausgerechnet in Kassel stattfindet, und machen ihrem Unverständnis gern Luft. Eine kleine Sammlung von Pressestimmen und Prominenten-Zitaten über Kassel macht deutlich, dass die Stadt bis heute als Unort, als Aschenputtel unter den deutschen Städten angesehen wird:
„Siedlung von Karteileichen“ schalt sie der Schriftsteller Oswald Wiener im Jahr 1977; „One of the ugliest city west of Sibiria” urteilte der in den USA lehrende deutsche Kunsthistoriker Benjamin Buchloh fünf Jahre später; „This soulless West German town“ deklamierte das US-Kunstmagazin Artforum anlässlich der documenta 8; und die frisch zur Leiterin der documenta X berufene französische Kuratorin Catherine David befand vor Amtsantritt: „Diese Stadt hat keine Eigenart und keine intellektuelle Tradition“.
Die niederländische Künstlerin Marlene Dumas gab sich überzeugt: „Kein Mensch mag Kassel“; und anlässlich der documenta 1997 titelte das Kunstmagazin Monopol über Kassel: „Eisdielen, Sexshops und die höchste Mordrate der Bundesrepublik“. Auch Schweizer Kunstfreunde und Journalisten wie etwa Mona Vetsch haben ihre Schwierigkeiten mit dieser „deutschen B-Stadt“ (NZZ am Sonntag). Wer nur könne, schrieb Frau Vetsch einmal in einer Reportage, habe Kassel verlassen. Und die, die geblieben sind? „Die sitzen mit Eduschogesichtern in Einkaufszentren und starren auf die Auslagen der Billigschuhläden.“
Alles in allem scheint das ländliche „Hessisch Sibirien“ mit seiner Hauptstadt Kassel ein sehr eigenartiger Ort zu sein, zu hässlich, zu mittelmäßig, zu verschlossen, um die edle und hochgeistige Gegenwartskunst beherbergen zu dürfen. Den bornierten Kritikern entgeht allerdings, dass es sich bei Kassel und seiner Umgebung um eine einzigartige „Erkenntnislandschaft“ handelt, wie es Bazon Brock einmal formulierte.
Und nur wenigen ist bewusst, dass das Wunder der modernen Kunst am besten vor einem vergleichsweise grauen, tristen Hintergrund möglich ist; hier kann die zeitgenössische Kunst Strahlkraft entwickeln, hier lässt sich das Märchen der Moderne, das Märchen von den Avantgarden gut erzählen. Kassel ist der Sockel, der Wechselrahmen, der Alltagsgegenstände in Kunst zu verzaubern hilft.
Die documenta selbst hat einen ebenso märchenhaften Aufstieg hinter sich. Sie ist untrennbar verbunden mit der Sage vom totalen Neubeginn Deutschlands, der „Stunde Null“. Der Subtext der ersten documenta von 1955 handelte von einer modernen Kunst, die nach Jahren der Verfolgung und Missachtung zum Symbol für eine neue Gesellschaft geworden war – eine Gesellschaft, viel freier als die des Sozialismus im Osten, und erst recht freier als die des überwundenen Nationalsozialismus.
Die karge Ruinenästhetik, in der die Kunstwerke bei der ersten documenta inszeniert wurden, illustrierte den Mythos der „Stunde Null“ auf meisterhafte Weise. Das Bekenntnis zur modernen Kunst sollte die Resozialisierung der Deutschen möglich machen und ihre Integration in die westliche Zivilisation voranbringen. Kassel war wie kaum eine andere Stadt als Schauplatz dieses Prozesses geeignet.
Die hessische Industriestadt hatte sich im Rahmen der nationalsozialistischen Wirtschaftsplanung zu einem wichtigen Rüstungsstandort entwickelt: Waggon, Lok- und Panzerbau, Flugzeugmontage, Wehrmachtsverwaltung. Im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs wurden dann vier Fünftel aller Wohnungen und zwei Drittel aller Industrieanlagen zerstört.
Auch das Umfeld Kassels wurde nach Kriegsende durch die Zonengrenze und spätere innerdeutsche Grenze durchschnitten. Damit war Kassel zum Fernen Osten der Bundesrepublik geworden und nahm nicht wie andere Städte am hohen Aufbautempo der Wirtschaftwunderzeit teil. Die verzögerte Wirtschaftsentwicklung der Region wurde bereits Ende der 1940er Jahre deutlich und sollte durch politische Kompensationen angeschoben werden.
Dazu gehörte die Bewerbung für den Sitz der Bundesregierung, die damals von der Polemik der „Budenhauptstadt“ begleitet wurde – Anspielung auf den provisorischen Zustand des Kasseler Stadtbildes. Am Ende verlor Kassel das Hauptstadtrennen gegen Bonn, bekam als Trostpreise aber immerhin das Bundessozialgericht, das Bundesarbeitsgericht (heute in Erfurt) und die Zusage, die Bundesgartenschau 1955 ausrichten zu dürfen.
Und hier kam die documenta als kulturelles Begleitprogramm erstmals ins Spiel. Der Kasseler Hochschullehrer und Künstler Arnold Bode (1900-1977) wurde als Ausstellungsmacher und Kulturmanager zum „Mr. documenta“. Seit damals engagieren sich die Stadt, das Land Hessen und der Bund gemeinsam für die große Kunstausstellung. Von Mal zu Mal zog sie mehr Besucher an. Das treueste Publikum stellten die zahlreichen deutschen Kunstvereine und die Fachbesucher, es wuchsen aber auch die Anteile ausländischer und regionaler Besucher.
Hand in Hand mit dieser Entwicklung stieg der Etat, der Aufwand für Werbung und Personal. Die documenta behauptete sich auch im schwierigen Umfeld einer prosperierenden globalen Biennalenkultur, viele Museen, Messen und Biennalen blicken neidisch auf ihr Mobilisierungspotential: „Sie hat fast die Anziehungskraft eines Karnevals“, so der britische Kurator Norman Rosenthal. Die documenta dient den professionellen wie den Laienbesuchern gleichermassen als offenes Forum der Meinungsbildung.
Der Vorteil gegenüber den Kunst-Edelsupermärkten der Messen und der heterogenen, in nationale Pavillons zerfallenden Biennale von Venedig liegt letztlich im Versuch, mittels eines Intendantenmodells einen großen intellektuellen Wurf zu wagen, für 100 Tage einen Kanon zu behaupten, ein Weltmuseum der Kunst darzustellen.
Der Kanon von Kassel – eine Behauptung, die stets bitteres Hohngelächter und wilden Widerspruch herausfordert und auf diese Weise Leben in die Auseinandersetzung mit der Gegenwartskunst bringt. Die Polarisierung, der Streit, der Verriss, aber auch die konzeptuelle Verwirrung und intellektuelle Vernebelung im Vorlauf der Ausstellung – all das ist Teil des großen Kunstschauspiels, das alle fünf Jahre in Kassel aufgeführt wird.
Ein abgründiger Erzählstrang rund um Kassel und die documenta wurde 2019 geküpft, nachdem die Kunsthistorikerin Julia Friedrich und der Historiker Bernhard Fulda beim Quellenstudium darauf gestoßen waren, dass der Kunsthistoriker Werner Haftmann (1912–1999), einflussreicher Mitgestalter der ersten drei Ausgaben der Kunstschau, NSDAP-Mitglied gewesen war und im Zweiten Weltkrieg als Dolmetscher beim deutschen militärischen Kunstschutz in Italien gearbeitet hatte, statt, wie von ihm zeitlebens behauptet, bloß als einfacher Wehrmachtssoldat gedient zu haben. Zudem hatte er als Kunsthistoriker in einem Aufsatz von 1934 versucht, die NS-Machthaber von der „deutschen Art“ des Expressionismus zu überzeugen; bekanntermaßen erfolglos, denn der Expressionismus wurde als „entartete Kunst“ diffamiert und verfolgt.
Die Überraschung des Kunstbetriebs über den Fall Haftmann war ihrerseits überraschend, bedenkt man, wie stark die personellen Kontinuitäten in allen gesellschaftlichen und staatlichen Bereichen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes letztlich doch waren, besonders in der westdeutschen Verwaltung, Justiz, Polizei usw. (in geringerem Maße auch in der DDR).
Die Auswahl des Chefkurators oder der Chefkuratorin ist seit jeher ein zentrales Narrativ der documenta. Nach negativen Erfahrungen mit Tandem-Konstruktionen galt die Suche bisher stets einer möglichst „genialen“ Einzelperson, die dann ein Team um sich versammelt. Nach der Erfahrung mit Haftmann steht zu erwarten, dass in Zukunft sehr sorgfältig geprüft werden wird, ob es im Führungsteam persönliche Verstrickungen gibt, die geeignet wären, einen weiteren Schatten auf die Kunstschau zu legen.
Eine documenta zu leiten bedeutet nicht nur, ein guter Organisator zu sein, sondern gleichzeitig als eine Art Philosoph und Gegenwartsdiagnostiker, besser noch als großer Erzähler aufzutreten: Jede documenta ist ja im Kern nichts weiter als eine Geschichte, die erzählt werden will, und dies auf möglichst unterhaltsame, erstaunliche und wundersame Weise.
Spannend wird es bei der documenta 15 im Jahr 2022. Dort übernimmt ein zehnköpfiges indonesisches Team die Leitung. Aber auch die Mitglieder von „Ruangrupa“ können sicher gute Geschichten erzählen. Denn das ist fast die Hauptsache bei einer documenta.
Die kuratierenden Märchenonkel und – tanten (bei der nächsten Ausgabe ist es eine ganze Gruppe Erzähler und Erzählerinnen) müssen bereits im Vorfeld mit allerlei vagen Andeutungen und pikanten Appetithäppchen die Spannung erhöhen, dürfen ihre Zuhörer aber nicht durch staubtrockene Theorietraktate und allzu intellektuelle Exaltationen vergraulen – so ist es schon eine Kunst an sich, eine gute Vorgeschichte zu erzählen, bevor das eigentliche Märchen beginnt.
Insgesamt liegt es nahe, die Geschichte der bisherigen Ausgaben als eine Art Märchensammlung zu betrachten: jede documenta hatte ihre Helden und Bösewichter, ihre großen Ziele und am Ende ihre jeweilige „Moral von der Geschicht“. Und schließlich: Die Rezeption der einzelnen Ausstellungen wandelt sich ja ebenfalls, wie eine Sage, die mündlich immer weiter gegeben wird.
Die documenta in Kassel – ein modernes Märchen
Auch historisch betrachtet, spricht Einiges für die These vom Kunstbetrieb als der Märchenwelt der Moderne: Im 19. Jahrhundert wurde der Künstler zum bohemehaften Gegenmodell des ökonomisch erfolgreichen Bürgers. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte das Bürgertum die mittelalterliche Sagenwelt als romantisches Paralleluniversum zur rationalen Industriegesellschaft.
Die Märchenfiguren des edlen Ritters, der missgünstigen Königinstiefmutter oder des unschuldigen Findelkindes stehen für eine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Heimat, Wunder und Zauber – all das, was im Prozess der rasanten Industrialisierung und Verwissenschaftlichung des bürgerlichen Zeitalters buchstäblich unter die schweren Eisenbahnräder kam.
Heute hat man den Eindruck, die moderne Kunst habe den Platz dieser Sagenwelt eingenommen. Die Kunstgeschichte der Avantgarden, der erratische Kunstmarkt dienen als Quelle für zeitgenössische Märchen; man könnte sie auch Wertschöpfungsmärchen nennen. Schauen wir doch einmal genau hin. Wieviele Aschenputtel und Knechte gibt es unter den Gegenwartskünstlerinnen und -künstlern, die tief im Innersten davon überzeugt sind, eine im Säuglingsalter vertauschte Prinzessin oder ein Prinz zu sein?
Froschkönige, die ungeküsst ein Leben lang hoffen, in ihrem wahren Wesen erkannt zu werden? Knappen, die ihren Herren als Künstlerassistenten die schwere Rüstung tragen müssen, und doch am liebsten selbst Turnierritter wären? Wieviele Dämonen und Zauberer, verführerische Teufel und intrigante Hexen gibt es unter all den Galeristen, Kuratorinnen, Kulturpolitikerinnen und Museumsdirektoren?
Und wieviele Erben, Sammler und Kunsthändler suchen ihren Goldesel, oder spüren gierig verborgenen Schätzen im Bergesinneren nach, gülden schimmernden Schätzen, die unter den Gerümpelbergen der unzähligen Installationen, Bricolagen und Assemblagen der gegenwärtigen Kunstproduktion begraben liegen?