In der turbulenten und schier unüberschaubaren Pariser Künstlerszene hatten es viele Künstlerinnen und Künstler schwer, Aufmerksamkeit für ihre Kunst zu gewinnen. Ein Beispiel: der deutsche Künstler Otto Freundlich (1878 – 1943). Er war wie sein Freund Picasso nicht auf einen künstlerischen Stil festgelegt – seine Malerei und seine Skulpturen entwickelten sich unabhängig voneinander weiter. In Fachkreisen gilt er als einer der Pioniere der abstrakten Kunst – 1911 malt er seine erste abstrakte Komposition. Aber warum wurde er nicht so berühmt wie Wassily Kandinsky (1866 – 1944), Kasimir Malewitsch (1879 – 1935), Piet Mondrian (1872 – 1944) und Robert Delaunay (1885 – 1941)? Selbst František Kupka (1871 – 1957), der sein ganzes Leben um seinen Stellenwert als Pionier der abstrakten Malerei kämpfen musste, ist bekannter.
Otto Freundlich hatte großes Talent und enorme Leidenschaft für die theoretischen Fragestellungen der modernen Kunst. Er hielt Verbindung zu vielen verschiedenen Künstlerzirkeln zwischen Paris, München, Köln und Berlin. Er war mit einigen der heute berühmten Künstler persönlich bekannt und an vielen gemeinschaftlichen Künstleraktivitäten beteiligt.
Trotzdem ist er außerhalb der Fachkreise heute recht unbekannt und teilt damit das Schicksal der Künstlerin Hilma af Klint (1862 – 1944), die ihr Werk allerdings selbst unter Verschluss gehalten und verfügt hatte, dass es auch bis 20 Jahre nach ihrem Tod dabei bliebe. Ihre Wirkungsgeschichte begann daher erst spät, in den 1980er Jahren.
Nach einer abgebrochenen Kaufmannslehre und ebenso abgebrochenen Zahnmedizin- und Kunstgeschichtsstudien hatte sich Otto Freundlich mit Mitte 20 entschieden, eine Laufbahn als Künstler einzuschlagen. Neben einer Reise von München nach Italien, unter anderem nach Florenz, die er zu Fuß unternommen hatte, war der Drang nach Paris für ihn – wie für unzählige europäische Künstler jener Zeit auch – fast so etwas wie eine Selbstverständlichkeit.
So war er seit einem ersten Aufenthalt in Paris 1908 mit vielen Künstlern gut befreundet, auch mit Pablo Picasso, dank dessen Kontakte er in der französischen Hauptstadt in einem Atelier direkt neben dem spanischen Künstler arbeiten konnte. Zusätzlich zur Arbeit an seinen Bildern und Skulpturen verfasste Otto Freundlich theoretische Schriften, die als Grundlage seiner künstlerischen Weltanschauung dienen sollten.
Er war an Aktivitäten verschiedener Künstlerkreise beteiligt, war im Lauf seines Lebens an vielen Ausstellungen beteiligt – und doch sollte ihm all dies außer Anerkennung nichts einbringen. Er blieb zeitlebens mittellos. Heute ist der Name Otto Freundlich nur einem kleinen Kreis von Künstlern, Fachleuten und spezialisierten Sammlern ein Begriff. Wie kommt das?
Vielleicht war es Otto Freundlichs Sprunghaftigkeit in der Kunst, die es schwer macht, einen Begriff für ihn zu finden. Einem der bekannten „Ismen“ der Kunst (wie Kubismus oder Suprematismus) ließ er sich nicht zuordnen. Vielleicht lag es auch daran, dass sich der Künstler in Künstlergruppen und Vereinigungen nie lange wohl fühlte und dort möglicherweise durch seine kompromisslose Haltung in Diskussionen eine eher unbequeme Erscheinung war.
Trotz seiner guten Vernetzung in der Kunstszene blieb er vergleichsweise isoliert. Er war an der Gründung diverser Gruppen beteiligt und setzte sich bald darauf wieder ab. Den Ansatz, durch Künstlergruppen eine ästhetische Position in der Öffentlichkeit durchsetzen zu wollen, sah er sehr kritisch.
Dabei war ihm durchaus bewusst, dass er es sich damit besonders schwer machte, die Aufmerksamkeit für sein Werk zu verbreitern. „Ich fürchte mich vor dem Zerbrochenwerden nicht, denn ich zerbreche mich selbst dauernd, d.h. ich lebe nicht für mein Privatleben, sondern kämpfe für die Befreiung der Menschen und Dinge von den Gewohnheiten des Besitzes und gegen alles sie Begrenzende, was ihrer wahren Natur nicht entspricht.“
Otto Freundlich – sprunghaft oder vielseitig?
Wie bei Pablo Picasso war der Einfluss prähistorischer Plastiken bei Otto Freundlich unübersehbar. Doch er zog seine eigenen Schlüsse aus den befremdlich wirkenden Kultobjekten vergangener Zeiten. Seine monumentalen Skulpturen wirkten gegenüber den bis dahin üblichen bildhauerischen Werken mindestens genauso schockierend wie Picassos Les Demoiselles d’Avignon.
Aber für Freundlich stellten diese aus einfachen Formen gebildeten Monumentalköpfe Sinnbilder für den Neubeginn der Menschheit dar. Sie dienten der Veranschaulichung überindividueller Kräfte, zeigen also keine konkreten Personen. Gleichfalls sollten sie kein reines Spiel der Formen sein. Otto Freundlich war davon überzeugt, dass die Kunst auch die Kraft habe, den Menschen aus seinen gesellschaftlichen Zwängen zu befreien.
Die Kunst und das Leben der Menschheit sollten sich zu einer harmonischen Einheit verbinden, in einem – wie er es einmal nannte – „kosmischen Kommunismus“ münden. Damit formulierte er einen ungeheuren Anspruch an die Kunst, dem sie bis dahin noch nie ausgesetzt war.
Auch seine abstrakte Malerei, in der sich isoliert nebeneinander stehende Flächen intensiver Farben zu einem Gesamtbild fügen, sollte diesem Ziel dienen: „einer Malerei, die sich an das Kollektivum Mensch richtet und ihre universale Gültigkeit als geistige Weltsprache voraussetzt“, in einer „Überwindung individualistischer, privater Wertsetzungen“.
Kann Kunst die Welt verbessern?
Kann Kunst die geistige Neuausrichtung einer Gesellschaft oder gar der Menschheit erreichen? Kunst im Dienste der „Weltverbesserung“? Otto Freundlich stellte sich das nicht wie eine chemische Reaktion vor, bei der die Menschen nur seine Kunst zu sehen bräuchten und dann würden die Dinge sich zum Guten wenden. Auch wenn er an die spirituelle Kraft der Kunst glaubte – so viel Magie mutete der Künstler seinen Werken nun doch nicht zu und naiv war er sicher auch nicht.
Seine Kunst sollte als Aufforderung dienen, sich den konstruktiven menschlichen Kräften zuzuwenden. Das hört sich ziemlich seltsam an. Aber ein Gedankenspiel macht diese utopische Idee etwas greifbarer: Was wäre, wenn die menschlichen Kräfte, die in Streit, Konkurrenz und Krieg verloren gehen, gemeinsam und konstruktiv an der Errichtung einer besseren Welt arbeiteten, sich in Bewegung setzten, statt sich gegenseitig zu lähmen? Was könnte dann entstehen?
Seltsam bleibt dabei jedoch der Glaube an die Überzeugungskraft der Kunst. Er knüpft bei genauer Betrachtung an die alte religiöse Funktion der Kunst an. Nur, dass sie uns nun nicht mehr auf den Weg zum christlichen Seelenheil führen, sondern helfen sollte, die „wahre Natur“ des Menschen freizulegen. Und dazu musste die Malerei die Fesseln der Perspektive und Anatomie abschütteln.
Das Sichtbare eines abstrakten Kunstwerks wurde in dieser Vorstellung zu einem Türöffner in die „eigene Unendlichkeit“. Aber der streitbare Künstler war mit diesen Vorstellungen nicht allein. In gewissem Umfang sollten solche Ideen, in denen die Kunst als geistiges Elixier revolutionärer oder auch utopischer Bestrebungen galt, sogar Schule machen. Auch andere Pioniere der abstrakten Malerei waren von solchen Überlegungen beflügelt. Und sie wurden wesentlich bekannter als Otto Freundlich.
Verfolgung, Tod und Verdrängung
Immerhin wurde Otto Freundlich von seinen Künstlerfreunden so wertgeschätzt, dass über 30 von ihnen – darunter neben Picasso auch Wassily Kandinsky, Georges Braque, Hans Arp und Walter Gropius – zu seinem 60. Geburtstag einen Appell an das Musée National d’Art Moderne in Paris richteten, zwei Werke des Künstlers anzukaufen.
Doch wenig später brach der Zweite Weltkrieg aus. Freundlich wurde in Frankreich als Deutscher interniert, nach einem halben Jahr wieder entlassen und dann – bereits unter deutscher Besatzung in Frankreich – erneut festgesetzt.
Schließlich tauchte Otto Freundlich ab und entzog sich der Deportation als Jude zunächst erfolgreich. In seinem Versteck bei einer Bauernfamilie im südfranzösischen Saint-Martin-de-Fenouillet wurde er schließlich durch die Denunziation eines Nachbarn aufgespürt und am 23. Februar 1943 verhaftet. Nach der Deportation ins deutsche Vernichtungslager Sobibor (im Südosten Polens gelegen) wurde Otto Freundlich am 9. März 1943, noch am Tag seiner Ankunft im Lager, ermordet.
Seiner Lebensgefährtin Jeanne Kosnick-Kloss (1892–1966), mit der Freundlich seit 1930 zusammen war, übereignete er noch vorher seinen gesamten Nachlass, der sich weitgehend im gemeinsamen Atelier in Paris befand und die deutsche Besatzung überstand.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Werk des Künstlers zwar in einigen historischen Betrachtungen der Avantgarden berücksichtigt, in Deutschland wurde er aber nach 1945 lange ignoriert. Zwar hatte man großes Interesse daran, die abstrakte Kunst als Inbegriff der Modernität und Demokratie in den Vordergrund zu bringen, aber man scheute die gesellschaftspolitischen Vorstellungen solcher Künstler wie Otto Freundlich, die unbequeme Theorien zu ihrer Kunst formuliert hatten. Das passte nicht in jenes Bild, das sich die Kunstfunktionäre der Bundesrepublik von der Kunst des Westens machen wollten.
Erst 1964 wurde auf der documenta III ein einziges Werk von Freundlich gezeigt – die Plastik Kompositon von 1933 (im Vordergrund der Abbildung oben).
Hier liest du den Beitrag über einen weiteren Künstler, der von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurde.
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Spannender Bericht. Herzlichen Dank für den Impuls.