Paul Gauguin (1848 ­– 1903) war nicht nur Maler. Er war Seemann, Börsenhändler und Aussteiger, der sein Glück auf einsamen Inseln suchte. Er gehört zu den einflussreichsten Impulsgebern der künstlerischen Moderne. Seine Gemälde, die in den Jahren zwischen 1891 und 1901 auf der Südseeinsel Tahiti entstanden sind, gehören zu den bekanntesten Werken der modernen Kunst überhaupt.

Eine Ausstellung in der Alten Nationalgalerie in Berlin wirft seit Frühjahr 2022 einen überfälligen kritischen Blick auf Paul Gauguin und den romantischen Mythos um den französischen Künstler – lange, nachdem der postkoloniale Diskurs entsprechende Neubewertungen in schriftlichen Publikationen zeitigte. Die Ausstellung wurde weitgehend in Kopenhagen konzipiert und dort auch bereits gezeigt.

Noch 2015 zeigte die Fondation Beyeler in Basel eine mit 50 Werken bestückte Gauguin-Ausstellung, ohne ein Wort zu den aktuellen Diskursen zu verlieren. Stattdessen hieß es, man wolle Gauguin zeigen, „weil er mit seiner Malerei den größten Einfluss auf die junge Künstlergeneration hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Picasso, Matisse haben ihn geschätzt, auch Kirchner. Das waren große Bewunderer von Gauguins Malerei.“

Natürlich, es ist nicht leicht, ausgerechnet an einem derjenigen modernen Meister nüchterne Korrekturen vollziehen zu müssen, die seit Jahrzehnten als Garanten der Begeisterung eines breiten Publikums für die Klassische Moderne gelten und zudem bis heute Einfluss auf das Schaffen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler haben. Paul Gauguin gehört in diese Riege der Protagonisten moderner Malerei.

Die Farben, die Virtuosität, die zum Teil von den Künstlern selbst gestrickten Legenden, die ihre Biografien schmücken – all das ermöglicht einen leichten Zugang zur Kunst und bringt bei den Besuchern der entsprechenden Blockbuster-Ausstellungen nicht selten eine Schwärmerei in Gange, die sich nach der notwendigen „Heldenkorrektur“ als naiv, wenn nicht gar als ignorant entpuppt.

Ist es heute noch okay, die Werke eines Künstlers zu rezipieren oder gar gut zu finden, der sich längst als Profiteur des Kolonialismus und Täter sexueller Ausbeutung entpuppt hat? Klar ist, dass es heute kein Zurück mehr zur kontextblinden Schwärmerei für die alten Heroen der europäischen Kunst geben sollte.

Das tut vor allem denen weh, die die Kunst am liebsten als Rückzugsort distinguierten Delektierens missverstanden haben. In der Ausstellung „Paul Gauguin – Why Are You Angry?“ indes wird diese Feststellung zum Ausgangspunkt einer interessanten Konfrontation von Gauguin mit zeitgenössischen Werken.

Gauguin Postkolonialismus Aussteiger
Paul Gauguin bezeichnete es als sein Hauptwerk: Das 139 x 375 cm große Ölbild »Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?« aus dem Jahr 1897 ist im Museum of Fine Arts, Boston zu sehen.

Wie sein etwas jüngerer Malerfreund Vincent van Gogh (1853 – 1890) sah sich Paul Gauguin als Außenseiter des Pariser Kunstbetriebs, als Bohemien, als Romantiker, als Suchender, der Leben und Kunst in einem einfachen Lebensstil jenseits des verhassten Materialismus vereinen wollte.

Zur Malerei war Gauguin erst spät gekommen – zunächst als Freizeitbeschäftigung neben seiner erfolgreichen Arbeit als Börsenmakler und unter dem Einfluss von Gustave Courbets und Camille Corots Malerei sowie den damals bereits seit vielen Jahren um Anerkennung ringenden Impressionisten. Erst mit Mitte Dreißig entschied sich Gauguin für eine Karriere als Künstler.

Zunächst folgte er einem Vorschlag Van Goghs, mit ihm im südfranzösischen Arles gemeinsam zu leben und zu arbeiten. Doch ihr Verhältnis war konfliktreich und das Experiment endete bereits zwei Monate später mit jenem legendären Schnitt ins Ohr Van Goghs.

Gauguin und seine Großmutter – die Flucht als Familienmotiv

Gauguin reiste eilig nach Paris ab, doch sein Traum war ein Leben in den Tropen. Die Flucht aus Frankreich war ein Motiv seiner frühen Kindheit. Denn seine Eltern flohen mit ihm als Kleinkind vor politischer Verfolgung nach Peru, wo seine Mutter Aline wohlhabende Verwandtschaft hatte. Paul Gauguins Großmutter mütterlicherseits war die uneheliche Tochter einer Französin und eines reichen peruanischen Diplomaten.

Ihr Name ist in Deutschland kaum bekannt, aber Flora Tristan (1803 – 1844) war eine international aktive Pionierin in vielfacher Hinsicht. In ihrem nur 41 Jahre währendem Leben war sie aus der Mittellosigkeit zu einer frühen Feministin, Sozialistin, Revolutionärin und Schriftstellerin geworden. Manchem gilt sie gar als Vordenkerin von Karl Marx und Friedrich Engels.

Flora Tristan (1803 – 1844), die französisch-peruanische Großmutter von Paul Gauguin. Der peruanische Romancier und Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa widmete ihr und ihrem Enkel den 2003 erschienen Roman „Das Paradies ist anderswo“. Zu Tristans wichtigsten Werken gehören „Meine Reise nach Peru – Fahrten einer Paria“ (1838) und „Arbeiter Union“ (1843).

Auch Flora Tristan war lange Jahre auf der Flucht, allerdings vor ihrem gewalttätigen Ehemann, dessen Mordversuch an ihr knapp scheiterte. Was sie und Paul Gauguin miteinander verband ist mehr noch als das Blut die Sehnsucht nach einer anderen Welt.

Gauguin hat seine jung verstorbene Großmutter nicht kennengelernt, sie war bereits tot als er auf die Welt kam; und ihre Ideen waren für ihn so abwegig wie für andere sein schwärmerischer Exotismus und das damit verbundene Heilsversprechen.

Wahrscheinlich konnte sie nicht kochen. Ein sozialistischer und anarchistischer Blaustrumpf.

Paul Gauguin über seine Großmutter Flora Tristan

Um Tahiti war seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein romantischer Kult einstanden, der von erotisch-exotischen Fantasien geprägt und zuletzt durch die Pariser Weltausstellung von 1889 mit kolonialen Ambitionen untermauert worden war. Seit 1880 und bis heute ist die Insel offiziell im Besitz Frankreichs, gilt als Französisches Übersee-Territorium und ist damit der Europäischen Union angegliedert. Der Maler hatte die Weltausstellung besucht und dort Nachbauten polynesischer Hütten gesehen.

In Gauguins Vorstellung war Tahiti ein exotisches Paradies, wo er ein ursprüngliches, glückliches und annähernd kostenfreies Leben würde führen können, ohne arbeiten zu müssen. Seine Sehnsucht nach dem Gleichklang von Natur und Mensch war für einen gebildeten Menschen mit seiner Erfahrung im städtischen Berufsleben noch nachvollziehbar; der Glaube aber, diesen Traum in einer französischen Kolonie verwirklichen zu können, war auch damals schon realitätsfern, wenn nicht selbstherrlich.

Gauguin Frauen von Tahiti Exotismus
Paul Gauguin »Tahitianische Frauen«, 1891, Musée d’Orsay, Paris. Dieses Motiv schien Gauguin wichtig gewesen zu sein. In einer zweiten Version, die heute in Dresden zu besichtigen ist, hat er die rechte Frauenfigur statt in einem von den Missionaren propagiertem hochgeschlossenen Gewand in einen traditionellen Sarong gehüllt.
Gauguin Parau api Exotismus
Paul Gauguin »Parau Api« oder »Gibt’s was Neues?«, 1892, Staatliche Kunstammlungen, Dresden. Der Einfluss Gauguins auf die Farbgebung der Expressionisten bzw. Fauvisten wie Henri Matisse wird in vielen seiner Bilder deutlich.

Die glücklichen Bewohner eines unbeachteten Paradieses in Ozeanien kennen vom Leben nichts anderes als seine Süße. Für sie heißt Leben Singen und Lieben.

Gauguin im Brief Ende 1890 an den dänischen Maler Jens-Ferdinand Willumsen
Tahitianische Frauen mit Musikinstrumenten, um 1885 fotografiert von Charles Georges Spitz (1857 – 1894)

Der zivilisationsmüde Gauguin „flieht“ nach Tahiti

1891 verließ Gauguin die Kunstmetropole Paris, seine Frau Mette-Sophie Gad und die gemeinsamen fünf Kinder, um sich auf eine Selbstfindungsreise nach Französisch-Polynesien zu begeben. Dort lebte er mit Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1903.

Die Reisekosten brachte er durch den Verkauf eigener Gemälde auf, aber auch durch eine Art Reisestipendium, verbunden mit dem Auftrag, den französischen Kolonialbesitz auf künstlerische Weise zu dokumentieren.

Gauguin hatte sich selbst mit dieser Idee an das Pariser Ministerium für Bildung und Schöne Künste gewandt und hoffte zudem, durch eine offizielle Mission von der lokalen Kolonialverwaltung der Insel unterstützt zu werden.

Dort angekommen, musste er feststellen, dass die Realität mit seinen Erwartungen kaum übereinstimmte. Die durch Seuchen stark dezimierte einheimische Bevölkerung trug westliche Kleidung und sprach dem Alkohol zu.

Die kleine französische Kolonialgesellschaft blieb aus Dünkel unter sich – auch für den langhaarigen Künstler aus Paris hatte sie nichts übrig. An der Legendenbildung eines Lebens „unter Wilden“ frei von Entfremdung hielt er dennoch fest.

Paul Gauguin (1848-1903), Vahine no te Tiare (Frau mit Blume / The Woman with the Flower), 1891, Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen © Ny Carlsberg Glyptotek
Paul Gauguin »Frau mit Blume«, 1891, Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen. Die portraitierte Frau trug westliche Kleidung. Gauguin inszeniert sie in der Tradition des europäischen Portraits. „Ihre Züge besaßen eine raffaelische Harmonie, und der Mund, der von einem Bildhauer modelliert schien, kannte die Sprachen der Rede und des Kusses.“

Auf der Flucht vor der europäischen Zivilisation mietete er eine Hütte in dem Dorf Mataiea, weitab von der Hauptstadt Papeete. Er lernte – mit mäßigem Erfolg – die Landessprache. Bald lebte er mit der 13-jährigen Tahitianerin Téha’amana (genannt auch: Tehura) zusammen, die ihm häufig als Modell diente.

Es entstanden zahlreiche Gemälde mit tahitianischen Motiven. Sie geben jedoch nicht das reale Tahiti wieder, das Gauguin erlebte, sondern jene bunte, warme, exotische Welt, die er sich erträumt hatte. Tatsächlich aber revolutioniert sich Gauguins Farbpalette unter dem Einfluss der lokalen Kultur. Seine Begabung für Bildfindung und Farbkomposition führten später dazu, dass Gauguins Kunst einen großen Einfluss auf die Künstler des Expressionismus ausübte.

Wie stark sich Gauguin in Korrespondenz mit der europäischen Avantgarde sah, verdeutlicht die Tatsache, dass er viele Schriften und Fotografien von Gemälden mit nach Tahiti gebracht hatte. Darunter befand sich auch eine eigenhändige Kopie von Édouard Manets »Olympia« (1863).

Die Tahitianerin, die Gauguin in »Frau mit Blume« (s.o.) portraitierte, sah diese Kopie in Gauguins Hütte und lobte das Bild, was Gauguin rührte, da Manets Werk in Frankreich zu dieser Zeit noch immer angefeindet wurde. (Es bekam erst 1907 einen Platz im Louvre. Heute hängt es im Musée d’Orsay.)

Ein Jahr später malte er einen Gegenentwurf zur »Olympia«. Statt einer selbstbewussten Prostituierten inszeniert Gauguin ein Naturkind, das sich unschuldig und gebannt vom anwesenden Geist der Ahnen aufs Lager presst. Mittels der Farben versucht Gauguin seelische Zustände erfahrbar zu machen.

Die erotischen Untertöne des Bildes und die für europäische Augen anstößige Haltung des jungen Mädchens gehörten aber ebenso zu Gauguins Kalkül – zu offensichtlich die Parallelen zur »Olympia«. Das Bild war ihm so wichtig, dass er es nicht verkaufen wollte.

Paul Gauguin »Der Geist der Toten wacht«, 1892. Albright-Knox Art Gallery, Buffalo (NY), USA.
Édouard Manet »Olympia«, 1863. Musée d’Orsay, Paris

Während seines Aufenthalts begann Gauguin mit einem fiktiven autobiografischen Reisebericht namens „Noa Noa“ („Wohlgeruch“), in dem er die Rolle eines Einheimischen einnahm. In diesem programmatischen und illustrierten Werk mischten sich Fiktionen mit Fakten. Ziel war es, beim europäischen Publikum Verständnis für sein Konzept von Leben und Kunst zu wecken.

„Die Zivilisation triumphierte, leider! Eine tiefe Traurigkeit bemächtigte sich meiner. Der Traum, welcher mich nach Tahiti geführt hatte, wurde durch die Tatsachen grausam verscheucht.“

Zitat aus Paul Gauguins „Noa Noa“

Obwohl das Leben auf der Insel nicht mehr seinen romantischen Träumen entsprach, hielt Gauguin in seiner Kunst an dieser Traumwelt fest und wurde so durch seine Gemälde schließlich zum Protagonisten des Mythos von der Traumwelt Tahiti – und das bis heute.

Nicht nur seine Bilder in den europäischen Museen üben diese Wirkung aus, auch ein Kreuzfahrtschiff, das den Pazifik durchpflügt, trägt den Namen des Künstlers.

Jemand schaut sich die Website des Kreuzfahrtschiffs „Le Paul Gauguin“ auf dem Tablet an.

Zeitweilig kehrte Gauguin wegen Geldmangel nach Paris zurück, und hoffte, dass die 66 auf Tahiti entstandenen Gemälde ihm endlich den Durchbruch zum gefeierten Künstler bringen würden. Das gelang aber nur ansatzweise, so dass er erneut nach Tahiti „flüchtete“.

Enttäuscht musste er feststellen, dass die Europäisierung der Insel inzwischen weiter fortgeschritten war. Mit Hilfe seiner Nachbarn baute er sich an der Küste in der Nähe von Papeete eine traditionelle Hütte und lebte erneut, wie bei seinem ersten Aufenthalt, mit einem jungen Mädchen, Pau’ura a Tai, zusammen.

Sie brachte Ende 1896 eine Tochter zur Welt, die bald darauf starb. In den folgenden Jahren verschlechterte sich Gauguins Gesundheitszustand als Langzeitfolge einer Syphilisinfektion. Auch finanziell blieb seine Lage prekär.

Die Schau „Paul Gauguin – Why Are You Angry?“ in der Alten Nationalgalerie betrachtet seine Werke vor dem Hintergrund aktueller Diskurse und konfrontiert sie darüber hinaus mit Positionen zeitgenössischer Künstlerinnen aus dem Pazifikraum. Zu sehen sind Werke von Angela Tiatia (Neuseeland/Australien), Yuki Kihara (Samoa/Japan) und Nashashibi/Skaer (Großbritannien) sowie von dem tahitianischen Aktivisten und Künstler Henri Hiro (Französisch-Polynesien).

„Die Auseinandersetzung mit der Künstlerpersönlichkeit Gauguins führt aber keineswegs zwingend zu einem moralischem Urteil über seine Kunst, sondern fügt der Betrachtung seines Œuvres vielmehr neue Facetten hinzu.“

Ralph Gleis, Direktor Alte Nationalgalerie

Vor dem Hintergrund postkolonialer Debatten stellt die Ausstellung Gauguins selbst kreierten Mythos des Aussteiger-Künstlers infrage. Allerdings bleibt die Erkenntnis, bei aller Kritik an der Prägung des Künstlers durch patriarchale Werte sowie koloniale und romantische Träume vom „irdischen Paradies“, dass ihm mit seinem auf Tahiti entstandenen Werk zugleich der Aufbruch zu einer neuartigen Kunst mit rätselhaften und ambivalenten Arbeiten gelang. Einige davon üben bis heute einen starken Einfluss auf die zeitgenössische Kunst aus.

Doch auch schon vor dem Einsetzen der postkolonialen Debatten lag ein schwerer Widerspruch auf der Hand – zwischen Gauguins Flucht aus der Zivilisation, deren Materialismus ihn auch in Gestalt der Museumskultur anwiderte, und der Tatsache, dass er trotzdem vehement an der Idee des Meisterwerks festhielt.


„Paul Gauguin – Why Are You Angry?“ 

Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, in Kooperation mit und nach dem Konzept der Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen

Alte Nationalgalerie Berlin, 26.03.2022 bis 10.07.2022

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