Der breite, seit Jahrzehnten anhaltende Hype um den geheimnisvollen niederländischen Maler Johannes Vermeer ist ein idealer Humus, um auszuloten, ob es falsche Gründe geben kann, Kunst gut zu finden. Wir nehmen die Eröffnung der Vermeer-Ausstellung in Amsterdam zum Anlass, um einen Werbespot zu besprechen, in dem der Alte Meister eine große Rolle spielt. Gibt es richtige und falsche Kunstliebe? Was sagt der Hype über uns aus?
Nach dem gemeinsamen Dinner verabschieden sich zwei wohlhabende Paare in mittleren Jahren voneinander. Die schwarze Limousine der Gäste steht abfahrbereit vor dem schlossähnlichen Domizil der Gastgeber, und der Abschied wird von dem üblichen Geplänkel allerlei gegenseitiger Komplimente begleitet.
– „Und eure Vermeer-Sammlung: ganz wunderbar!“, sagt die Frau des Besucherpaares entzückt. So etwas sieht man schließlich nicht bei jedem.
– „Vermeer?“, fragt der Gastgeber irritiert, „was für ein komischer Name!“
– „Ja, Vermeer, … der berühmte holländische Maler, von dem nur 34 Gemälde überliefert sind“, erklärt die Besucherin.
– „Fünf davon hängen doch in eurer Diele,“ sekundiert ihr Mann ungläubig.
– „Ach, die! Die haben wir beim Einzug auf dem Dachboden gefunden. Uns gefallen sie vor allem, weil Gelb unsere Lieblingsfarbe ist.“
Die Gäste schauen irritiert. Was sind das für Leute, die einen der berühmtesten Künstler des Goldenen Zeitalters der Niederlande auf die Farbe Gelb reduzieren? Den folgenden Moment des Schweigens beenden die peinlich berührten Vermeer-Kenner mit einer kumpelhaften Floskel.
– „Ihr seid schon echt witzig, ihr zwei …“
Als die Gäste in ihrem Auto sitzen und gerade abfahren wollen, schaut der Gastgeber noch mal durch das geöffnete Beifahrerfenster ins Innere des Wagens und bemerkt anerkennend:
– „Neues Auto? Ganz schön cool!“
Dieser Werbespot für den Audi A8 illustriert mit der selbstbewusst vorgetragenen Analogie des kleinen, aber kunsthistorisch bedeutsamen Lebenswerks des niederländischen Malers Johannes Vermeer (1632–1675) mit dem Audi A8 die humorige, aber immer auch etwas prätentiöse Beweisführung für die Überlegenheit eines bestimmten Produkts.
Darüber hinaus knüpft der Spot direkt an die Diagnose an, dass Menschen Dinge nicht einfach mehr konsumieren, sondern tiefe Beziehungen zu ihnen aufbauen. Sie verleihen, in den Worten des Sozialphilosophen Axel Honneth ausgedrückt, ihrer sozialen Identität Form, indem sie „diese in einem Ensemble persönlich konsumierter Güter ausdrücken.“
Die Dinge des Konsums sind längst wichtige Anker für die Identität, die soziale Distinktion und die Rituale unserer auch engsten Beziehungen geworden. Die Soziologin Eva Illouz spricht sogar von der „Romantisierung der Waren“ und reklamiert, dass die modernen Konsumenten „das breite Angebot an Luxusgütern zur rituellen Stabilisierung ihrer gefährdeten Liebesverhältnisse nutzen“.
Ob es sich hier um Brillanten, Uhren oder eine Kunstsammlung handelt, ist in dieser Hinsicht nebensächlich. Die Kunst bewegt sich längst in einem dichten Konkurrenzfeld ästhetischer Produkte und Phänomene, in dem ihr Anderssein oft kaum mehr als eine Behauptung ist. Die Dinge formen unser Leben und streifen dabei mitunter sogar ihren Charakter als profanes Konsumgut ab; sie werden zu einem Teil von uns.
Manche sollen sogar mit diesen Fetischen reden, z. B. mit ihrem iPhone oder ihrem Auto. Es gehört zu den bekannten menschlichen Schwächen, dass profane Dinge zur Vergewisserung unserer Identität dienen müssen. Durch sie versuchen wir, Halt zu finden und das Gefühl des Verlorenseins zu bändigen – erst recht in der Unübersichtlichkeit der modernen Konsumgesellschaft. Dieses Bedürfnis ist der Treibstoff ganzer Industrien.
Auf jeden Fall gibt es keinen Grund, sich darüber lustig zu machen. Denn wir alle kennen (selbst wenn wir womöglich eine konsumkritische Haltung kultivieren) diese emotionalen Beziehungen zu Konsumartikeln oder auch ritualisierten kommerziellen Events, die durch persönliche Erlebnisse oder den Wunsch bestimmt wurden, sich mit ihrer Hilfe von anderen abzugrenzen.
Manchmal reicht auch der hohe Preis, um eine starke Emotion hervorzurufen. Mit der aufwendigen Inszenierung der Waren hoffen die Hersteller, dauerhafte emotionale Bindungen zu den Konsumenten aufzubauen, sie möglichst zum Treueschwur zu ihrer Marke zu verstetigen.
Der beschriebene Vermeer-Spot ist mustergültig für diese Technik. Mit keinem Wort werden die Produkteigenschaften des Autos gewürdigt, allein das soziale Setting, die Kultiviertheit der Protagonisten und das funkelnd inszenierte Produkt sprechen Bände.
Vermeer und die Kunstliebe
Bleiben wir noch einen Moment bei dem Vermeer-Werbespot, der nicht nur interessant ist, weil er den Konsum (des Produkts) und die Rezeption (der Kunst) praktisch synonym behandelt und damit die im Kulturbetrieb bis heute vorherrschende Sicht, dass die Kunst im Gegensatz zur Ware nicht konsumiert, sondern rezipiert wird, über Bord wirft.
Die schöne Pointe, dass ein ahnungsloses, neureiches Paar die ,richtigen‘ Werke aus den ,falschen‘ Gründen liebt, geht im Hohn über dessen mangelnde Bildung leider fast unter.
Kunstkenner und solche, die sich dafür halten, machen sich gern über die Unwissenheit oder Ignoranz von Menschen lustig, denen Bildende Kunst kaum etwas bedeutet. Die ungebildeten Art Lovers mit zu viel Geld kennen sich vielleicht mit Kunst nicht so gut aus, sie wissen nicht mal, dass sie unfassbar wertvolle Werke auf dem Dachboden gefunden haben; aber dass Kunst ihnen nichts bedeutet, kann man nicht behaupten. Sie haben vielleicht nur im Sinne des elitärkulturellen Mainstreams die falschen Gründe, sich für bestimmte Werke zu erwärmen.
Unabhängig davon wirft es ein Licht auf die schlechte Reputation der jüngeren Kunst bei den Fernsehzuschauern, wenn ein Werbespot auf einen Alten Meister zurückgreifen muss, der seit über 340 Jahren tot ist, um seine Botschaft unmissverständlich ins Publikum streuen zu können. Mit Rothko, Sherman, Eliasson oder einem anderen noch zeitgenössischeren Paten für ,wahre Meisterschaft‘ hätte das wohl nicht funktioniert.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die us-amerikanische Werbeagentur Venables Bell & Partners ihrer Idee für den Werbespot kulturkritische Tiefe verleihen wollte – schließlich geht es darum, Autos zu verkaufen. Vermeers Meisterwerke (nach aktueller Expertenmeinung sind es übrigens 37, nicht 34) dienen – wie ein berühmter Basketballtrainer und ein wertvoller, signierter Baseball in einem anderen Werbeclip dieser Reihe – nur als Metapher für „wahre Größe“ – entsprechend des Kampagnen-Claims „True greatness should never go unrecognized“.
Ganz gemäß dieses Mottos zeigt sich der Triumphzug von Vermeers Gemälden in der westlichen Welt. Spätestens seit einer großen und sehr erfolgreichen Ausstellung seiner Werke in Washington, D.C. und in Den Haag im Jahr 1995 ist Vermeer ein sicherer Blockbuster. 2001 folgte eine weitere Schau mit seinen Werken in New York City. 2021 zeigte die Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden 10 Werke von Vermeer – damit schon die bisher größte Ausstellung des Malers in Deutschland.
Und nun präsentiert das Rijksmuseums in Amsterdam „Die größte Werkschau aller Zeiten“ des Malers (10. Februar 2023 bis 4. Juni 2023). 28 Gemälde Vermeers aus 14 Museen und Sammlungen werden dort gezeigt. Das Ausstellungsmarketing prahlt entsprechend euphorisch: „Noch nie konnten Sie so viele Gemälde von Johannes Vermeer an einem Ort sehen. Wir haben die meisten Gemälde Vermeers aus der ganzen Welt für Sie zusammengestellt. Nutzen Sie die Gelegenheit, den Maler besser kennen zu lernen und in seine Welt einzutauchen.”
Aber zurück zu dem Spot. Die Geschichte hat eine zweite, wohl auch den Machern des Spots verborgen gebliebene Deutungsebene, die völlig andere Schlüsse erlaubt. Denn das vermeintlich ungebildete, aber reiche Paar hängt die Vermeers aus ganz persönlichen Gründen in ihre repräsentative Eingangshalle, statt aus dem Wissen um den hohen kulturellen Stellenwert der Werke. Ihre Kunstliebe ist naiv aber ehrlich.
Das Gästepaar hingegen verbreitet mit seinem Wissensvorsprung einen peinlichen Dünkel. Sie kennen die Kunstgeschichte und die Namen angesagter Künstler und sie wissen, welches Auto man fahren sollte, um als Mitglied der privilegierten Schicht angesehen zu werden. Nicht auszudenken, wie sie sich die Mäuler zerreißen würden, hätten die Gastgeber selbstgemalte Bilder in ihrem Haus hängen. Die eigentlichen Sympathieträger in diesem Spot sind die, die Kultur nach ihrem eigenen Kompass lieben und nicht blind dem folgen, was der Kanon vorgibt.
Das führt uns zu der Frage, was heute noch die richtigen oder falschen Gründe sein können, Kunst zu lieben oder zu hassen oder wie man sich persönlich ihren wahren Wert erschließt. Unser Beispiel, wenn auch nur ein Werbespot, ist das symptomatische Produkt einer Welt, der eine Unterscheidung zwischen Rezeption und Konsum nicht mehr gelingt. Man kann sich das Gespräch des Paares auf dem Heimweg gut ausmalen und dabei sich selbst möglicherweise erkennen.
Worüber sie sich aber ganz sicher nicht unterhalten würden, sind die Kriterien, nach denen sie selbst ganz persönlich zu der Überzeugung gelangen, dass die Gemälde Vermeers besonders wertvolle Kunstwerke darstellen. Gesellschaftlich vermittelte Beurteilungsmuster werden in der Regel übernommen, ohne sie mit persönlichen Erfahrungen abzugleichen.
Die Frage ist, ob das besser ist als eine brachial naive Art, sich ohne Wissen über den Kanon oder gruppenspezifische Verhaltenscodes die Kunst zu erschließen. In einer wirklich auf Freiheit bedachten Kultur, deren Zugangsmöglichkeiten kaum mehr zwischen Rezeption und Konsumtion unterscheiden, ist beides legitim und mit beidem ist zu rechnen. Es bleibt vorläufig offen, wer dabei die intensivere Kunst- und Selbsterfahrung macht.
Das Dilemma der Kunstvermittlung
Für die vermeintlich „richtige“ Rezeption wird eine Menge getan. Klassische Führungen kennen wir alle und manchmal gibt es sie auch in einem ungewohnten Gewand, ohne dass sich dadurch an ihrem Kern etwas ändert. Auf der documenta 12 (2007) wurden sogar Kinder (darunter auch die Tochter des damaligen documenta-Kurators Roger Buergel) eingesetzt, um Erwachsene durch die Ausstellung zu führen und die Kunst zu „erklären“.
Das ergab immerhin an dem Punkt interessante Dialoge, an dem der Erklärungspfad zum Kunstwerk, den die Kinder zuvor in Workshops gelernt hatten, zu ende erzählt war. Dann öffnete sich nach ein paar peinlichen Momenten, in denen das junge Führungspersonal versucht, an seiner Rolle festzuhalten, plötzlich ein Horizont für das gemeinsame Erschließen des Kunstwerks. Hier konnte sich der Virus der Erklär-Doktrin noch nicht einnisten und die jugendlichen Guides hatten noch nicht die gegen jeden Zweifel gewappnete Eloquenz professioneller Kunstvermittler ausgeprägt.
Eher selten sind hingegen Vermittlungsangebote, in denen neben der Kunst auch das Setting mit den unterschiedlichen Betrachtern Beachtung findet. Dabei steht der Dialog zwischen den verschiedenen Herangehensweisen an Kunst (wie es selbst in einer relativ homogenen Gruppe von Menschen der Fall sein kann) und der gemeinsame Erkenntnisgewinn mit offenem Ausgang im Mittelpunkt. Immerhin wurde dieses Konzept von KunstundDialog, einer Gruppe von Kunstpädagogen um Antje Kathrin Lielich-Wolf, sogar schon auf Großveranstaltungen wie der Biennale in Venedig angeboten.
Doch in der Regel bleibt es beim sturen Abschreiten autorisierter Pfade des Kunstverständnisses. So auch im Rijksmuseum in Amsterdam. Dort werden die abgezirkelten Geschichten über Vermeer und besondere Merkmale seiner Malerei aufgesagt. Zum Beispiel, dass Vermeers Witwe nach dem frühen Tod ihres Mannes die Schulden beim Bäcker mit zwei Gemälden bezahlte.
Das ist das strenge, aber freundliche Gesicht, das Laien im Kontakt mit der Kunstwelt oft begegnet. Das unfreundliche Gesicht zeigt sich in dem latenten Vorwurf gegenüber dem sporadischen Ausstellungsbesucher, nicht wirklich etwas von zeitgenössischer Kunst zu verstehen, nicht auf der Höhe des ,Diskurses‘ zu sein (der so genannte ,Diskurs‘ ist eine imaginäre Dauerveranstaltung mit ein paar Dutzend theoriegeschulten Referenz- und Schlagwortführern, die sich über Medien, Kooperationen und Tagungen verständigen) und das zeitgenössische Angebot bildender Kunst nicht mal ansatzweise zu überblicken.
Anweisungen für die Rezeption
Heutige Künstler definieren (manchmal mit Hilfe von Theoretikern oder Galeristen) eigene ästhetische Positionen und „Lesarten“ für ihre Arbeiten. Das Ergebnis sind zum Teil furchtbare Wortgirlanden, die gerade angesagten Diskurstrends nachbeten und die aktuellen Codes des Kunstbetriebs bedienen. Wenn es eine Gewissheit gibt, dann die, dass über die (manchmal gut gemeinte) PR- und Erklärprosa kein Bedeutungsraum zwischen Werk und Betrachter entsteht.
Wer sich die Freiheit nimmt, von Kunstmarkt oder Kuratoren hoch Geschätztes nicht zu würdigen oder vielleicht sogar infrage zu stellen, und anderes, das vielleicht weniger hoch im Kurs steht, oder gar nach kunstbetrieblicher Lesart gar keine Kunst darstellt, weil sie schlicht nicht über das relevante System vertrieben wird, zu bevorzugen; kurz, sich die Freiheit nimmt, sich nicht bevormunden zu lassen, der hat im ,Diskurs‘ nichts zu suchen oder wird als Nebenwiderspruch links liegen gelassen.
Dabei sollte klar sein, dass Kunst kein Fachgebiet ist, das sich in einem Elfenbeinturm wie etwa experimentelle Physik exklusiv halten lässt. Die „Zielgruppe“ der Kunst ist noch größer als die des populärsten Unterhaltungsprodukts. Grundsätzlich zielt Kunst nicht nur auf alle Menschen, sondern auch auf alle Zeiten, bekanntlich ist der Nachruhm eines Künstlers fast noch wichtiger als der Ruhm zu Lebzeiten.
Vor diesem Hintergrund scheint die traditionelle Ausgrenzung des Laien und die Ignoranz gegenüber alternativen Rezeptionsformen als unzeitgemäßes Festhalten an Sicherheiten und Grenzen, die es nicht mehr gibt. Eine wichtige Grundvoraussetzung, um einen fruchtbaren Zugang zur Kunst zu finden, ist, diesen sprachlichen Irrgärten zu entkommen und die Erkenntnis, dass Kunst keine Erleuchtungsmaschine ist, für die es durch Geburt, Sozialisation oder gesellschaftliche Position einen Führerschein gibt.
Also liebe Vermeer! Ob aus dem Grund, dass die scheinbare Ruhe in seinen Bildern einen heilsamen Kontrapunkt zu unserer beschleunigten und komplexen Realität setzt oder weil seine Maltechnik so staunenswert ist. Ob aus dem Grund, dass diese kleinen Formate eine solche Überschaubarkeit bieten, dass man am liebsten in diese Welt kriechen und alles Unüberschaubare unserer Zeit hinter sich lassen möchte; oder weil das knappe Angebot jedes seiner Bilder besonders wertvoll erscheinen lässt.
Ob aus dem Grund, dass die Bilder eine starke Sinnlichkeit ausstrahlen oder Vermeers aufwendige „Pointillé“-Technik die in Licht getauchten Oberflächen regelrecht vibrieren lassen. Oder aus dem Grund, dass seiner Lebensgeschichte so viel Tragisches anhaftet, das uns mitfühlen lässt. Oder einfach, weil sein Gelb so verdammt toll ist. Liebe ihn, aus welchen Gründen auch immer, so lange es deine sind!
2 comments
Super!
Sehr interessanter Bilck auf den Kunstbegriff. Bravo und Danke.