Das Portrait des Dr. Gachet ist eines der berühmtesten Gemälde Vincent van Goghs. Es zeigt einen sorgenvoll dreinschauenden Herrn, den Vincent so sehr gemocht haben muss, dass er ihn kurz hintereinander sogar zweimal gemalt hat. Noch heute glauben viele dieses Märchen. Aber wie ist es wirklich zu diesen beiden Versionen des Gemäldes gekommen?
Die auffallend schönere und interessantere Version vom Portrait des Dr. Gachet wurde am 15. Mai 1990 für einen damaligen Rekordpreis von weit über 82 Millionen Dollar an den wenig später verstorbenen japanischen Papiertycoon Ryoei Saito versteigert. Nachdem er das Bild erworben hatte, soll er gesagt haben: „Legt das Bild in meinen Sarg, wenn ich sterbe.“
Obwohl es nicht mit dem Eigentümer beerdigt wurde, ist das Werk seitdem der Öffentlichkeit entzogen und befindet sich in irgendeinem Banksafe oder Zollfreilager. Van Gogh hatte dem Arzt ein bestechendes Denkmal gesetzt, fast hat man den Eindruck, als hätte der Künstler hier einen Seelenverwandten gemalt.
Doch wer war dieser Paul-Ferdinand Gachet eigentlich? Ein wirklicher Freund? Hat es wirklich verdient, auf so schmeichelhafte Weise in die Kunstgeschichte einzugehen?
Der Reihe nach: Im Anschluss an eine gesundheitliche Krise in der Nervenheilanstalt von Saint-Remy begab sich Vincent van Gogh im Frühjahr 1890 in die Obhut des kunstbegeisterten Arztes Dr. Gachet im Dorf Auvers-sur-Oise, ein paar Kilometer nordwestlich von Paris entfernt.
Dr. Gachet war bereits Gastgeber von Paul Cézanne gewesen und in Künstlerkreisen als passionierter Hobbymaler bekannt, der seine Werke stets mit dem Pseudonym „Paul van Ryssel“ signierte.
Dr. Gachet – Arzt und Freund von van Gogh?
Van Gogh sollte bei ihm medizinische und psychische Unterstützung finden, merkte aber bald, dass ihm Dr. Gachet keinerlei Hilfe sein würde, hatte dieser van Goghs Zustände doch irrtümlich auf eine „Terpentinvergiftung“ zurückgeführt. Seinem Bruder Theo schrieb Vincent ernüchternde Worte über Dr. Gachet: „Ich glaube, man darf in keiner Weise auf Dr. Gachet zählen. Erstens ist er meiner Meinung nach kränker als ich oder sagen wir ebenso krank, voilà. Wenn ein Blinder einen andern Blinden führt, werden dann nicht beide in den Graben fallen?“
Vincent wohnte in einem winzigen Zimmer in der Dorfpension und erhielt die Erlaubnis, die Tochter des Arztes zu malen. Dem ersten Bild sollte ein weiteres folgen, doch darüber gab es bald ein heftiges Zerwürfnis, weil Van Gogh der 21-jährigen Marguerite bei dieser Gelegenheit offenbar Avancen gemacht hatte.
Keine vier Wochen später, am 27. Juli 1890, schoss sich der Künstler in den Bauch. Über den merkwürdigen Auftritt des zu Hilfe gerufenen Dr. Gachet berichteten Zeitzeugen, dieser habe gemeinsam mit dem Dorfarzt Dr. Mazery den verletzten van Gogh untersucht und nicht zu erkennen gegeben, dass er mit dem Künstler persönlich bekannt war. Er habe einen provisorischem Verband angelegt, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die Kugel zu entfernen. Beim Verlassen des Raumes soll er den Dorfarzt mit der Bemerkung weggeschickt haben, es handele sich hier um einen hoffnungslosen Fall.
Weder am Abend noch am nächsten Tag ließ er sich wieder blicken. Stattdessen schrieb er Vincents Bruder Theo van Gogh in einem Brief, er habe seinen Bruder „in einem sehr schlechten Zustand“ vorgefunden, der Bruder solle für den schlimmsten Fall kommen. Als der Künstler schließlich am Morgen des 29. Juli 1890 in seiner Dachkammer in der Pension Ravoux starb, war so wenigstens sein Bruder bei ihm. Warum hat Dr. Gachet keinen Rettungsversuch unternommen? Wollte oder konnte er nicht?
Tatsächlich war Dr. Gachet gar kein richtiger Arzt, sondern das, was der Volksmund einen Kurpfuscher nennt. Oder wie soll man sonst einen „Arzt“ bezeichnen, der Geschlechtskrankheiten mit Elektroschocks behandelte? Seinen Doktortitel hatte Gachet mit einer „Studie über Melancholie“ erworben, aber immerhin praktizierte er mehrmals in der Woche als angestellter Arzt der französischen Bahn in Paris. Doch sein Arbeitszimmer glich einer Alchimistenbude; die Schulmedizin lag ihm völlig fern.
Dr. Gachet war schlichtweg nicht in der Lage, die Kugel aus van Goghs Körper zu entfernen. Gerade deshalb wäre es seine Pflicht gewesen, einen fähigen Mediziner herbeizurufen oder van Gogh in das nächst gelegene Krankenhaus transportieren zu lassen, zumal der Zustand des Künstlers zunächst noch stabil war. Den Maler in seinem Pensionszimmer liegen zu lassen, bedeutete für van Gogh den sicheren Tod. Am Grab des Malers wollte der Mediziner dann wenigstens eine Rede halten, war jedoch auch dazu nicht fähig, wie Anwesende berichteten: „Er weint so sehr, dass er nur ein unzusammenhängendes Lebewohl herausbringt.“
Ein Geier am Grabe van Goghs
Am Tag der Beisetzung wurde Vincent in seinem Zimmer aufgebahrt. Der Sarg war mit einem weißen Tuch und Unmengen von Blumen bedeckt. Staffelei, Klappstuhl und Pinsel waren um den Sarg herum arrangiert worden, und an den Wänden, so erinnert sich der Zeitzeuge Émil Bernard (1868 – 1941), waren all seine letzten Gemälde aufgehängt worden, „sie formten eine Art Heiligenschein um ihn herum und machten – durch die Brillanz des Genies, das aus ihnen leuchtete – diesen Tod für uns Künstler noch schmerzhafter“.
Aus heutiger Sicht waren bei dieser Totenehrung unbezahlbare Meisterwerke versammelt. Damals wussten Theo van Gogh und seine Frau nicht, wo sie die vielen sperrigen und schwer verkäuflichen Gemälde lagern sollten. Entsprechend freigiebig waren sie damit. Theo van Gogh wollte dem Wirt der Pension und anderen, bei denen Vincent in der Schuld stand, Gemälde seines Bruders zum Dank für ihre Unterstützung anbieten, und auch Dr. Gachet sollte für seine „Bemühungen“ etwas bekommen.
Dr. Gachet bediente sich schamlos. Er nahm zehn Gemälde mit und wies seinen Sohn Paul-Louis (1873–1962) an: „Roll das zusammen, Kleiner“, damit sich ein handliches Paket ergab. Zusammen mit drei Studien, die ihm Van Gogh schon zu Lebzeiten geschenkt hatte, besaß er damit bereits 13 Werke. 1903 besuchte der deutsche Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe den Arzt, der nun bereits mit 26 Van-Goghs renommierte. Der Doktor betrieb in seinen späten Lebensjahren einen regelrechten Van-Gogh-Kult, plante die Herausgabe von Briefen und einer Biografie.
Zudem malte er nun selbst und zog sich zwei junge Talente heran, um Van-Gogh-Kopien herzustellen – seinen Sohn Paul Gachet jr. und die begabte junge Schneiderin Blanche Derousse (1873–1911). Die beiden zeichneten passabel nach Camille Pissarro und Cézanne und übten sich im Kopieren. Mit eigenen Originalen waren sie zwischen 1903 und 1910 im Salon des Indépendents vertreten gewesen. Nach Dr. Gachets Tod übernahm sein Sohn das Familienerbe und finanzierte seinen Lebensunterhalt mit Bilderverkäufen.
Gachet jr. erstellte zu jedem der 44 Van-Gogh-Werke in seinem Besitz ein eigenhändigen „Echtheitszertifikat“, gewährte aber Forschern keinen Zugang zu den Arbeiten. Schon damals wuchs das Misstrauen gegenüber der Sammlung Gachet, allerdings ohne nennenswerte Konsequenzen. Geschickt verwaltete Gachet jr. seinen Bilderschatz, in dem sich Originale von Van Gogh und Cézanne mit zeitgenössischen Kopien von seinem Vater, ihm und Blanche Derousse mischten.
Der Sohn des Doktors teilte dessen Obsession für van Goghs Werk. Nach zahlreichen wohlüberlegten Verkäufen überließ er staatlichen Museen vor seinem Tod zahlreiche Werke. Bei großen Ausstellungen wie „Ein Freund von Cézanne und van Gogh – Dr. Gachet“, die 1999 in Paris, New York und Amsterdam gezeigt wurde, gerieten so Originale, Kopien, zweifelhafte Briefe und Memorabilia wie „Van Goghs Palette“ durcheinander.
Es ist den Gachets gelungen, ihre Fälschungen über Jahrzehnte hinweg und über verschiedene Kanäle in das Van Gogh-Œuvre einzuspeisen, und so ihrem Namen eine historische Bedeutung zu verleihen – nicht als Freunde des Künstlers, sondern als dessen perfideste Fälscher. Womit wir zur zweiten Version des Gemäldes kommen. Dieses gelangte als Vermächtnis von Paul Gachet in französischen Staatsbesitz und wird heute im Musée d’Orsay gezeigt:
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Servus! Manchmal wünsche ich mir mehr solcher Artikel. Vielen Dank. Grüße aus Bayern