Piero Manzoni spürte schon in den 1960ern eine Verzweiflung, die heutigen Künstlern sehr vertraut ist: Wohin eine Künstlerin bzw. ein Künstler auch schaut, Kunst ist schon da: In Politik, Wirtschaft, Mode und Wissenschaft – überall werden Atmosphären erzeugt, Bilder und Stimmungen hergestellt, Performances und Inszenierungen zur Aufführung gebracht.
Die Ambient Art des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat eine Bewegung angstoßen, die weltweit zu einer Aufwertung von schlichten Verkaufsflächen zu künstlerisch inspirierten und kuratierten Erlebnislandschaften geführt hat. Nie war mehr Kunst als heute. Dem Traumberuf Künstler indes scheint dies keinen Abbruch getan zu haben.
Unter diesen knapp skizzierten Umständen scheint der klassische Typus individuell arbeitender Künstler und Künstlerinnen mittelfristig vom Aussterben bedroht zu sein. Man könnte auf die Idee kommen, dass ihre Legitimation und Ehrenrettung nun paradoxerweise in der Verweigerung besteht – im Verschwinden. Vielleicht ist das eine der Ursachen für die Faszination, die seit einigen Jahren den renitenten Außenseitern, den Verweigerern, Vermissten oder früh Verstorbenen der Kunstgeschehens zu Teil wird. Piero Manzoni (1933-1963) gehört zweifellos in diese Reihe.
Das dramatisch auf sechs Jahre verkürzte Lebenswerk des jungen adligen Italieners (er hieß vollständig „Conte Meroni Manzoni di Chiosca e Poggiolo“) durchlief in immenser Geschwindigkeit einen formalen Radikalisierungsprozess: vom abstrahiert-figürlichen Tafelbild über verschiedene Stufen farblicher und formaler Reduktion bis zur Kunst ohne Werk – der Body Art und ihrer biologischen Abfallprodukte. Die Nachkriegsmoderne wurde im Zeitraffer aufgeführt.
Piero Manzoni verkaufte Künstler-Scheiße und Künstler-Atem
Im Rückblick erscheint die Eile, als stünde sie in einem Zusammenhang mit dem frühen Tod des offenbar herzkranken Künstlers. Vielleicht spürte Piero Manzoni, dass ihm wenig Zeit blieb, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Auch wenn dies eine äußerst vage Spekulation ist – das Verstecken, Verschwinden und Vergehen lässt sich zweifellos als Leitmotiv in Manzonis Œuvre benennen.
So überspringt er die monochromen Phasen seiner Zeitgenossen und lässt die Farbe in seinen „Achromes“ gleich ganz weg, er reduziert die Zeichnung auf Linien, die er auf Papierrollen zeichnet, in Kapseln verpackt und im Boden vergräbt, er faltet Leinwände zusammen und verschnürt sie zu versandfertigen Päckchen, er verzichtet auf jede künstlerische Gestaltung, indem er in seinen „Sculture viventi“ Menschen auf Sockel platziert und deren Körper signiert. Darunter befand sich auch der junge Umberto Eco. Manzoni setzte dem später weltberühmt gewordenen Schriftsteller und Gelehrten Eco damals also unwissend ein vorauseilendes Denkmal.
Schließlich verzichtet Piero Manzoni auf die Körper der Modelle, auf den Körper des Künstlers und widmet sich ganz dessen Nebenprodukten, etwa dem „Fiato d’Artista“ („Künstleratem“ in Luftballons) oder der „Merda d’Artista“ („Künstlerscheiße“ in Konservendosen).
Der Gedanke der Selbstauslöschung ist auch in der Aktion „Consumazione dell’arte“ präsent, bei der vom Künstler per Fingerabdruck signierte Eier verspeist werden. Und letztlich verzichtet Manzoni auf jede Art von künstlerischer Signatur, er hebt die Grenze zwischen Kunst und Welt auf: Der kopfüber aufgestellte Metallsockel „Socle du monde“ erklärte den Erdboden mit allem, was sich darauf befindet, zu Kunst und löschte den Autor damit aus. Zwei Jahre später wurde Manzoni beerdigt und wurde so selbst zum Teil seines eigenen Kunstwerks – er starb im Atelier an einem Herzinfarkt.
Piero Manzoni zum Dosenpreis
Unbekannt ist bisher wie viele seiner Dosen „Künstlerscheiße“ Piero Manzoni selbst verkauft hat. Es gibt einen bemerkenswerten Beleg, der den Verkauf einer der Dosen (Nr. 069) im August 1962 dokumentiert. Der Käufer und Freund Piero Manzonis Alberto Lùcia, selbst Maler und Dichter, hat demnach die 30 Gramm Exkremente tatsächlich im Tausch gegen 30 Gramm Gold (18 Karat) erworben.
Was blieb von Manzoni in der Kunstgeschichte? Mit seinen 90 mehrsprachig beschrifteten Dosen voller „Merda d’Artista“ erschuf er eine Ikone des Ikonoklasmus, die bis heute ebenso viel Bewunderung wie Abscheu erweckt. Einerseits beflügelte er Kulturpessimisten, die die Kunst damit auf der niedersten Ebene angekommen wähnten; andererseits bewundern viele diese Werkgruppe bis heute als konzeptuelles Meisterstück, das allerlei Absurditäten und Paradoxa des Kunstbetriebes in sich bündele. Kein Wunder also, dass sein Werk bis heute künstlerische Huldigungen, aber auch Nachahmungen und Fälschungen erfährt.
Der Marktwert einzelner Dosen liegt heute bei etwa 100.000 Euro – und kaum ein Privatbesitzer will sich noch davon trennen. Den bisherigen Spitzenwert von 275.000 Euro erreichte die bereits erwähnte Dose Nr. 069.
Wer den Snobismus und die Exzentrik des Kunstsammelns als Upperclass-Idiotie geißeln will, findet in Piero Manzonis Dosen einen schlagenden Beweis. Doch weit darüber hinaus verstärkte das Wertschöpfungsmärchen, das „Merda d’Artista“ durchmachte, die Ausstrahlungskraft und den Glanz der modernen Kunst: Hier allein, so scheint es, sind noch Zauber und Wunder möglich.
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Guter Text. I like.