Giotto di Bondone (ca. 1267–1337) erlangte noch zu Lebzeiten eine solche Berühmtheit, dass sich bald zahlreiche Legenden um ihn rankten. Eine besagt, der Maler Cimabue (1240–1302) habe den Hirtenknaben Giotto zufällig beim Schafe hüten entdeckt. Giotto habe ein Tier der Herde so lebensecht auf Stein nachgezeichnet, dass Cimabue die hohe Begabung des Hirten erkannte und Giotto als Schüler bei sich aufnahm. Giotto habe dann bald so gut gemalt, dass er einer gemalten Figur seines Lehrers eine Fliege so natürlich auf die Nase gemalt habe, dass Cimabue sie für eine wirkliche Fliege hielt und verscheuchen wollte. Aber abgesehen von netten Legenden – was macht ihn für uns heute noch interessant?
Giottos herausragende Stellung lässt sich nicht nur anhand überlieferter Werke belegen. In den Chroniken der Stadt Florenz wurde er zu den reichsten und einflussreichsten Persönlichkeiten gezählt. Eine der wichtigsten und zugleich eine der wenigen zweifelsfrei belegten Auftragsarbeiten Giottos befindet sich in der „Arena-Kapelle“ in Padua. Sie heißt so, weil sie auf dem Grund einer antiken Spielstätte, eines Amphitheaters, errichtet wurde.
Dieser Bau galt damals als Skandal. Der Auftraggeber war nicht die Kirche selbst, sondern Enrico Scrovegni, Spross einer der reichsten und mächtigsten Familien der Stadt.
Allgemein war bekannt, dass Enricos Vater Reginaldo (gestorben in den 1280ern) als Bankier den enormen Reichtum der Familie mit Zinseinnahmen beim Geldverleih zusammengetragen hatte. Für Kredite Zinsen zu verlangen galt den damaligen Christen allerdings als „Todsünde“ („Wucher“).
Ein Ausschluss von der Absolution, also der „Sündenvergebung auf Erden, um der Hölle zu entgehen“ und die Verweigerung eines christlichen Begräbnisses wären damals im Normalfall die Folge gewesen. Deshalb hatte Enricos Vater vorsorglich seine Beziehungen spielen lassen und sich in einer Privataudienz beim Papst Vergebung zusichern lassen.
Auch Enrico kam zu einer ähnlichen Vereinbarung mit dem Papst, die den Bau der Arena-Kapelle in Padua als „Wiedergutmachung“ bzw. Versöhnungsmaßnahme miteinschloss. So entstand ein Prachtbau, der von außen unscheinbar, im Inneren aber regelrecht überwältigend wirkt. Um das zu erreichen wurden weder Kosten noch Mühen gescheut. So kam Giotto ins Spiel, der um die zwei Jahre an der komplexen Ausgestaltung arbeitete.
Die Angst vor dem Schmoren in der Hölle war in diesem Fall also nicht nur eine Sache der kleinen Leute. Die Arena-Kapelle wurde Maria gewidmet, die als Fürsprecherin der Menschheit beim Jüngsten Gericht gilt.
War der Neubau dieser Kirche des reichen Mannes eine gute Tat? Möchte man annehmen. Trotzdem sorgte sie nach ihrer Fertigstellung um 1306 für gewaltigen Ärger. Zunächst war nämlich vereinbart worden, dass die Kapelle als Anbau des Familienpalastes errichtet wird und ausschließlich der privaten Andacht dient.
Doch die Arena-Kapelle bekam bald öffentlichen Charakter. Nicht nur, dass sie einen Kirchturm erhielt; der Papst gewährte auch all jenen einen Sündenablass, die zum Beten in Enricos Kapelle gingen – was man als eine gezielte Werbemaßnahme zur Förderung privater Stiftungen interpretieren kann.
Die benachbarten, in freiwilliger Armut lebenden Eremitani-Mönche hingegen sahen sich ins Abseits geschoben. Die Wege der Gläubigen führten nun an der Kirche der Mönche vorbei und direkt in den prachtvollen Neubau der Scrovegni. Der Protest der Mönche richtete sich gegen einen Kirchenbau, der „mehr aus Prunksucht, eitlem Stolz und Reichtum errichtet wurde, als zum Lobpreis, zum Ruhm und zur Ehre Gottes.“
Giotto – meisterhafter Bilderfinder und Verführer
Interessant ist, dass Giotto über der für Enrico vorgesehenen Gruft das Motiv der Vertreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel platzierte – ein direkter Bezug auf den Hintergrund der privaten Stiftung.
Im Johannesevangelium des Neuen Testaments der Bibel findet Jesus den alten jüdischen Tempel gefüllt mit Händlern und Geldwechseln, die dort womöglich auch den Kauf von Opfergaben kreditierten. Im Altertum war es allerdings auch durchaus üblich, dass sich in Tempeln ein Großteil des gesellschaftlichen Lebens abspielte. Jesus stößt die Marktstände um und schüttet die Münzen auf den Boden, um den Tempel von den Geschäftemachern zu „reinigen“ und ihn zum reinen Ort des Glaubens und des Gebets zu machen – ein radikaler und wenn man so will militanter Akt, der sich zu einem beliebten religiösen Motiv mit antijüdischem Subtext entwickelte.
Auch in Giottos gruseliger Darstellung des Jüngsten Gerichts fällt eine Anspielung auf den Wucher ins Auge, denn einige der Sünder hängen hier an den Schnüren ihrer Geldbeutel aufgeknüpft.
Giotto war selbst – wie schon erwähnt – überaus reich. Ihm gehörten große Ländereien und Häuser in Rom und Florenz. Zudem vermietete er Webstühle mit enormen Renditen, die in dieser Form aber nicht gegen das Wucherverbot der Kirche verstießen.
In der Arena-Kapelle wollte Giotto wohl so etwas wie einen künstlerischen Gesamteindruck erzeugen. Sobald man das Innere betritt, ist man in seiner Bilderwelt. Das intensive Blau des Deckengewölbes und die wiederkehrenden Elemente aus Landschaft und perspektivisch erfassten Gebäuden verbinden die vielen Einzelmotive mit ihren liebevoll erfassten Details zu einem großen Ganzen. Zudem aktivierte Giotto die Mimik und Gestik der Figuren, dass der Betrachter die Geschichten regelrecht miterlebt.
Wie konnte Giotto das gelingen? Indem er sich auf sein eigenes Auge verließ und das Studium der Natur und Alltagsbeobachtungen für seine Kunst nutzte. Er setzte nicht mehr auf die Bildtradition, in der leblose Figuren eingesperrt wirken wie versteinerte Fossilien. Er formte seine Figuren aus Licht und Schatten und stellte sie auf eine realistische Bühne. Gleichwohl wirken seine Figuren auf manchen Bildern immer noch sehr gedrängt – als wollte Giotto ihnen den Raum, den sie aufgrund des Volumens ihrer Körper eigentlich beanspruchen, nicht gönnen.
„Geistige Erkenntnis aus Augenzeugenerlebnis“
Das Staunen und die Einschüchterung der Gläubigen in der Kirche wird greifbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Bilder im Leben der Menschen absoluten Seltenheitswert hatten. Die Mönche des benachbarten Klosters indes werden das Bildprogramm Giottos als optische Trickserei, als oberflächlichen Hokuspokus empfunden haben.
Sie werden darüber empört gewesen sein, dass sich die Malerei der Arena-Kapelle dem demütigen Dienst an Gott entzog und so ein prachtvolles Eigenleben entfaltete. Ihre Unversöhnlichkeit mit dieser Neuerung wird noch größer gewesen sein als es die zeitgenössischen Fans des Autorenkinos gegenüber Blockbustern aus Hollywood mit ihrem CGI-gestützten Primat der Verblüffung sind.
Die Mönche sahen sich womöglich noch einer alten Traditionslinie des christlichen Glaubens verpflichtet, die ganz im Sinne des Alten Testaments gegen die Verehrung von Abbildungen bzw. Götzenbilder gerichtet war. Einen Artikel zum Bilderverbot liest du hier.
Natürlich war Giotto nicht allein für die Revolution der christlichen Ikonografie verantwortlich. Zum einen griff er Neuerungen einiger früherer Maler auf, auch die seines Lehrers Cimabue. Zum anderen gab es bereits intellektuelle Ansätze, die diese Entwicklung vorwegnahmen.
So war es ausgerechnet ein Gelehrter des Franziskanerordens, der die Wissenschaft der Optik, oder damals „Perspectiva“ in den Mittelpunkt der Ikonografie stellt – im Rahmen seiner großen Enzyklopädie ordnete Roger Bacon (1210-1292) diese Disziplin allen anderen über – „Geistige Erkenntnis aus Augenzeugenerlebnis“.
Allerdings hatte der Universalgelehrte und Forscher Bacon, dem übrigens auch die Erfindung der Brille nachgesagt wird, mit heftiger Zensur seiner Arbeit zu kämpfen und geriet bald nach seinem Tod in Vergessenheit. Giotto hingegen – und das ist sicher auch der Wirkmacht seiner Bilder zuzuschreiben – gilt bis heute als wichtigster Anstifter der italienischen Renaissance und Ahne von Leonardo, Michelangelo, Raffael und Co.
Beim Vergleich von mittelalterlichen Bildern und späteren Werken ab der Renaissance kommt immer wieder die Frage auf: Konnten es die Maler im Mittelalter nicht besser? Warum wirken ihre Figuren immer so linkisch, leblos und flach? Konnten sie den Raum nicht richtig erfassen? Ihre Augen müssen doch den Raum gesehen haben, so wie wir ihn auch sehen. Die Antwort darauf kann nur lauten, dass ihnen die perspektivische Darstellung des Raums und eine lebendige Gestaltung von Menschen und ihren Bewegungen einfach nicht wichtig waren – ihnen reichte eine schematische Darstellung der Figuren und je nach Bedeutsamkeit waren die Figuren groß oder klein.
Hier lassen sich durchaus Parallelen zur zeitgenössischen Kunst ziehen wie z.B. der Malerei von Rose Wylie, wenngleich diese nicht aus Frömmigkeit entsteht sondern vom Bewusstsein über die Dominanz perfektionierter Illusionstechniken in unserer Kultur begleitet wird.
Ähnlich sieht es mit der in mittelalterlichen Bildern oftmals nur angedeuteten Landschaft aus. Niemand hatte das Bedürfnis, Naturgegenstände haarklein darzustellen. Ein erkennbares Blatt einer bestimmten Pflanze im Bild reichte völlig aus. Die Menschen sahen dann in diesem Fragment die der Pflanze zugeschriebenen Eigenschaften oder ein festgelegtes Symbol. Zeit und Raum waren für die Menschen im Mittelalter ebenfalls keine wesentlichen Kategorien – Gott war überall und jederzeit musste man damit rechnen, ihm gegenübertreten zu müssen und Rechenschaft abzulegen. Und Mobilität, so wie wir sie heute kennen, war völlig unvorstellbar.
Selbst Giotto musste eine der Natur entsprechende Darstellung immer wieder den Figuren und den Vorgaben der Auftraggeber unterordnen – und so war auf den Bildern schlicht gar kein Platz mehr für die korrekte Wiedergabe von Räumen. Um einen Wald darzustellen reichte dann eben auch ein Baum. Die Gebäude im Hintergrund sind oft nur stilisiert, sie wären für die Menschen viel zu klein gewesen und wirkten teilweise unmöglich konstruiert.
Doch der Forschergeist der Künstler war geweckt und eine Entwicklung losgetreten, die zu jenem gewaltigen Bildprogramm der Kirche führen sollte, das bis heute die Museen der westlichen Welt und die Vorstellung der Menschen von „guter Kunst“ dominiert.