Um 2010 tauchte die Malerin Rose Wylie urplötzlich aus der südenglischen Provinz auf – a star was born! Im Frühjahr 2021 sind ihre Werke erstmals im Museum Langmatt in der Schweiz zusehen. Aber passt bei ihr überhaupt die oft strapazierte Legende vom plötzlich entdeckten Talent?
Die englische Sprache kennt den Begriff des „Emerging Artist“ – gemeint sind aus der Masse der Unbekannten und Ungesehenen auftauchende Künstler und Künstlerinnen, die quasi aus den dunklen Tiefen eines Gewässers aufsteigen, um an der Oberfläche sichtbar zu werden. In der Regel setzen ambitionierte Talente alles daran, bereits in jungen Jahren zum Erfolg zu kommen.
Deshalb galt und gilt für die meisten: Wenn die 35 überschritten ist, gehört man zum alten bzw. mittelalten Eisen – wofür wiederum der mitleidige Ausdruck „Mid Career Artist“ steht. Auch deshalb betrat zu Beginn dieses Jahrtausends die Figur des Künstler-Jungstars die Bühne, der strategisch handelte und von Galeristen und Sammlern systematisch aufgebaut wurde.
Der Lebenslauf von Rose Wylie erscheint vor diesem Hintergrund absolut ungewöhnlich. Sie gilt als eine der bedeutendsten britischen Künstlerinnen der Gegenwart, obwohl sie den internationalen Durchbruch erst im hohen Alter erreichte.
Rose Wylie wurde 1934 in Kent geboren und studierte zunächst an der Dover School of Art, bevor sie im Alter von 23 Jahren den Künstler Roy Oxlade (1929–2014) heiratete. Sie hatte den fünf Jahre älteren Kommilitonen am Goldsmith College kennengelernt, wo sie ihre Studien fortsetzte. Während ihr Mann seine Künstlerlaufbahn absolvierte, lag ihre eigene über 20 Jahre lang auf Eis.
Mit dem Haushalt und drei Kindern war sie gut 20 Jahre voll beschäftigt, zudem diente sie ihrem Mann zeitlebens als Muse und Inspirationsquelle. Insofern ist sie indirekt auch in seinem Œuvre präsent. Oxlade hatte zwar einige Erfolge (darunter namhafte Galerie-Ausstellungen, Publikationen und Lehrtätigkeiten), sein Werk gilt aber bis heute als eher unterschätzte und „unverstandene“ Malereiposition in der britischen Nachkriegszeit.
Zweifellos muss seine Kunst auch Einfluss auf das Werk seiner Frau gehabt haben. Dies ist gar nicht zu vermeiden, wenn man lange zusammen auf engem Raum wohnt und arbeitet. Das Label „Rose & Roy“, das ein Dokumentarfilm über beide im Titel führt, ist somit sicherlich berechtigt.
Die Entscheidung, nach der Heirat mit dem Malen aufzuhören, erläuterte Wylie in einem Interview: „Wir kamen überein, dass es keine gute Idee sei, wenn beide Eltern malen, weil Malen eine sozial isolierende Tätigkeit ist, bei der man sehr auf sich selbst fokussiert ist. Kinder wirken dann schnell als Störung. Das hätte nicht funktioniert. So zog ich die Kinder auf, und es war eine gute Idee.“
Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, konnte Rose sich wieder ihrem Beruf widmen. Nun nahm sie die künstlerische Tätigkeit wieder auf und schloss 1981 am Royal College of Art in London ihren Master ab. In den folgenden beiden Jahrzehnten malte und zeichnete sie weitgehend unbeachtet in ihrem kleinen Bauernhaus in Kent, in dem sie noch heute lebt.
Rose Wylie – wie funktioniert „Entdeckt werden“?
Jahrelang arbeitete Wylie obsessiv, wie sie selbst sagt. Unermüdlich kontaktierte sie Galerien, ohne Erfolg, und bewarb sich ebenso erfolglos um Ausstellungsbeteiligungen, z.B. die alljährlich stattfindende Royal Academy Summer Exhibition. Das mühsame Ackern um Beachtung hat ihr immerhin ein paar Nominierungen eingebracht, z.B. für den „Jerwood Painting Prize“ (1997) und den „Threadneedle Prize“ (2009).
Eine Einzelausstellung im Jahr 2006 in der UNION Gallery, einer damals noch jungen Institution, die sich nicht etablierten Positionen im Kunstgeschehen widmete, brachte ihre Bilder dann ins Herz von London. Folgend kümmerte sich Wylie weiter um Ausstellungen, auch international.
2009 wurde Rose Wylie schließlich von einem britischen Kommittee vorgeschlagen, um Großbritannien in der für Juli 2010 geplanten „Women to watch“-Ausstellung des National Museum of Women in the Arts in Washington, D.C. zu vertreten. Das Thema sollte zeitgenössische figürliche Malerei sein. Die Kuratorin Kathryn Wat des NMWA nahm Wylie in die Ausstellung auf, wo die Künstlerin weitere Aufmerksamkeit auf sich zog.
Schauspielerin Sienna Miller und ihre Schwester, die Modedesignerin Savanna Miller verpflichteten Rose Wylie als Gastkünstlerin für ihr Label Twenty8Twelve, verkauften ihre Bilder kommissionsfrei im Londoner Flagshipstore und brachten eine T-Shirt Edition mit von Wylie entworfenen Motiven heraus. Zudem widmete ihr die berühmte Publizistin Germaine Greer einen stark rezipierten Artikel im Guardian.
Nun war die Schwelle überschritten, ab der Anfragen und Angebote an Rose Wylie herangetragen wurden, statt dass sie selbst weiter Klinken putzen musste. Dem vermeintlichen „Entdeckt werden“ durch den Kunstbetrieb gingen also Jahrzehnte kontinuierliche Arbeit nicht nur im Atelier voran, sondern auch ausdauerndes und von Frustrationen geprägtes Drängen ins Licht der Öffentlichkeit.
Es folgten vielbeachtete Ausstellungen wie in der Tate Britain 2013 und in der Serpentine Gallery 2017. Im gleichen Jahr wurde sie von der internationalen Top-Galerie David Zwirner unter Vertrag genommen. Mittlerweile ist ihr Name international ein Begriff.
Die lange Flaute in Roses künstlerischer Vita ist eigentlich gar nicht so selten, denn es gibt ein Muster, wie sich Künstlerehen auf die jeweilige Karriere von Mann und Frau auswirken. Oftmals geben Frauen ihre künstlerische Tätigkeit zugunsten emotionaler Unterstützung und Betreuung des Mannes auf. Sie trösteten ihn über Schaffenskrisen hinweg, sorgten unter Umständen auch für den Lebensunterhalt, führten den Haushalt, organisierten den Alltag des Künstlergatten, und fungierten manchmal auch beruflich als „Sekretärin“.
Die Ehe von Lee Krasner und Jackson Pollock bietet ein prominentes Beispiel: Noch Jahrzehnte nach dem Tod ihres Mannes galt Krasner als die hauptberufliche Pollock-Witwe – ihre künstlerische Eigenständigkeit wurde erst sehr spät anerkannt.
In vielen Künstlerehen und -partnerschaften hatten die Männer aber auch einen klaren Startvorteil: Sie waren zum Zeitpunkt der Heirat bereits älter und erfahrener, oft auch erfolgreicher, und damit attraktiv für jüngere Frauen, für Schülerinnen und Kunststudentinnen, die sich von dieser Verbindung Unterstützung versprachen. Besonders in der Bewegung des Surrealismus gab es einige dieser Beziehungen.
Für viele verheiratete Künstlerinnen galt und gilt leider immer noch: Kinder und Küche statt Kunst. Das muss aber nicht zwangsläufig passieren, wie das Beispiel der Künstlerin Katharina Sieverding zeigt, die erklärte:
„Als ich meine drei Kinder bekam, dachten einige Kollegen: Zum Glück, jetzt ist sie weg. Aber ich blieb. Man muss sich um der Kunst willen unabhängig machen. Dann spielt es keine Rolle, welches Geschlecht man hat.“
Katharina Sieverding in “Die Zeit” 28. 1. 2021
Natürlich stellt sich auch grundsätzlich die Frage, ob Künstlerpartnerschaften überhaupt funktionieren können, besonders, wenn beide Partner im gleichen Genre und im gleichen Segment des Kunstmarktes tätig sind. Neid und Konkurrenzdenken könnten die Beziehung deformieren. Nach Thomas Bernhard ist die Künstlerehe die reinste Hölle, wie er in seinem Stück Die Berühmten notierte: „Sind es zwei Talente, wie groß immer, vernichten sie sich, zuerst das eine das andere, und dann umgekehrt.“
Rose Wylie – ihre Bilder sind nur scheinbar „naiv“
Wylies Kunst erinnert zunächst stark an Kindermalereien (die sie persönlich sehr schätzt) oder Arbeiten der Art Brut oder der Outsider Art. Auch das Label „Bad Painting“ scheint passend, das die us-amerikanische Kunsthistorikerin Marcia Tucker in den 1970er Jahren prägte.
Motive findet sie in der näheren Umgebung: Im Haus, Garten, in der Nachbarschaft. Menschen, Tiere und Landschaften wirken oftmals wie Figuren dilettantischer Cartoons. Bei näherer Betrachtung finden sich aber auch tiefere kunsthistorische und politische Bezüge.
Zur näheren Umgebung der Künstlerin gehören nämlich auch Schichten alter Zeitungen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie bedecken in Massen den Boden des Ateliers, über den die Künstlerin immer wieder den Blick schweifen lässt, um Anregungen zu bekommen.
Viele Motive entnimmt sie Zeitungen, Filmen, Werbung und dem Alltagsleben, sie verdichtet sie zu humorvollen und pointierten Kommentaren zum Zeitgeschehen. Gelegentlich erscheinen Schauspieler, historische Figuren und Prominente auf ihren Bilder, darunter auch weibliche Stars wie Elisabeth Taylor oder Nicole Kidman.
Zentraler Gegenstand ihrer Malerei ist unsere visuelle Kultur. Der beiläufige Blick darauf, dem die Stimulation folgt, die assoziative Verbindung solcher Stimuli mit Erinnerungen und der Versuch, die Dinge nicht nach den tradierten Spielregeln dieser Visualität einzuhegen – das bezeichnet Rose Wylie als „personal-visual-diary-making“.
Die Zeichnung spielt in diesem Prozess eine große Rolle, um die Fragmente der visuellen Kultur aus ihren standardisierten Klammern zu befreien, zu denen auch „Nachahmung“, „Illusion“ und die „Komposition“ eines Bildes zählen. Ihren Stil bezeichnet sie ironisch als „Dürer Holzschnitt Look“.
Im Gemälde ER & ET kombinierte Wylie die Initialen von Queen Elizabeth I. mit denen der Schauspielerin Elizabeth Taylor, laut Wylie die „Queen of Hollywood“. Die junge Taylor zeigt sich in klassischer Aktpose im Badeanzug und blickt den Betrachter direkt an, dabei an Manets Olympia (1863) erinnernd.
Die allgegenwärtigen Augen und Ohren verweisen darauf, dass sowohl Taylors als auch Elizabeths Leben permanent unter Beobachtung der Öffentlichkeit standen. Wylie entnahm diese Elemente einem historischen Porträt der jungen Elizabeth I. aus dem Jahr 1592. Marcus Gerards der Jüngere (1561–1636) malte die Königin in einem Edelstein besetzten Mantel, dessen kostbare Applikationen wie Augen wirken.
Das Museum Langmatt in Baden präsentiert vom 28. Februar bis zum 24. Mai 2021 die erste Einzelausstellung von Rose Wylie in der Schweiz, auf die man gespannt sein kann:
„Lustvoll und energetisch erzählen die Bilder von Leben und Tod, Liebe und Verlust, Freude und Trauer, Zwang und Freiheit. Und plötzlich verlassen diese grossen existenziellen Themen, die zugleich traditionsreiche Themen der Kunstgeschichte sind, ihren Sockel und begegnen uns überraschend auf Augenhöhe.“
Langmatt-Direktor Markus Stegmann
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation mit einer Erzählung von Markus Stegmann zu den Bildern von Rose Wylie. Markus Stegmann (Hrsg.): Rose Wylie, Museum Langmatt, Baden, Hatje Cantz Verlag, Berlin 2021, 120 Seiten, 22 Abb., ca. CHF 28.00
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Vielen Dank für den erhellenden Bericht mit den Querbezügen, die für das Verständnis der Arbeit von Rose Wylie wichtig sind. Ihre entspannte “Unerschrockenheit” – eine luzide Mischung aus Naivität, Wissen und biografischer Erfahrung – hat mich im November 2019 beim Atelierbesuch beeindruckt. Ganz abgesehen davon, dass die Künstlerin trotz ihres grossen Erfolgs äusserst bescheiden lebt, so wie sie es wohl während Jahrzehnten tat.
Markus Stegmann