Francisco de Goya gilt als Künstler, der seiner Zeit weit voraus war. Manche sehen in ihm gar einen „Propheten der Moderne“, der spätere Künstlergenerationen beeinflusste und einem sozialkritischen Realismus den Weg bahnte. Aber was genau macht sein Werk heute noch aktuell und sehenswert?
Francisco de Goya y Lucientes (1746–1828) hinterließ ein so schillerndes wie widersprüchliches Werk. Einerseits war er einer der letzten bedeutenden Hofmaler Europas, andererseits ein Vorläufer des freien modernen Künstlers. Er war ein loyaler Hofkünstler, zugleich aber auch Erfinder rätselhafter und verstörender Bildwelten – für die er besonders bekannt ist.
Goya gilt als einer der ersten Künstler in der europäischen Kunstgeschichte, der sich vehement und hartnäckig gegen ideologische Dogmen und ästhetische Regelwerke zur Wehr setzte, darüber hinaus die Freiheit und den individuellen Erfindungsgeist des Künstlers („capricho“ und „invención“) propagierte. Zunächst begeisterten sich die französischen Romantiker wie Delacroix für ihn, stand er doch für ein aus Pariser Perspektive exotisch-rückständiges, aber ebenso leidenschaftliches Spanien.
Goya avancierte zum Paten einer „Schwarzen Romantik“, die bis heute fasziniert. Vor allem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde er dann als künstlerischer Wegbereiter der Moderne und Kämpfer gegen Absolutismus und Reaktion interpretiert.
Aus sozialistischer Perspektive sah man in Goya einen Künstler, der soziales und politisches Unrecht anklagte und sich entschieden gegen Monarchie und Klerus positionierte. So widmete die DEFA, einstige staatseigene Filmproduktionsfirma der DDR, dem spanischen Meister 1971 einen Film unter der Regie Konrad Wolfs. Der Streifen basiert auf Lion Feuchtwangers Roman Goya oder der arge Weg der Erkenntnis, an dem der Exil-Schriftsteller sieben Jahre lang gearbeitet hatte.
Tatsächlich aber lieferte der Meister als Hof- und Gesellschaftsmaler zahlreiche loyale Porträts der Mächtigen und Berühmten, etwa von dem ursprünglich dem niederen Adel entstammenden Manuel Godoy (1767–1851). Dieser war unter der Regentschaft König Carlos’ IV. vier Jahre lang Premierminister. 1795 unterzeichnete er den „Frieden von Basel“, um den Krieg Spaniens gegen Frankreich zu beenden. Auch nach seiner Entlassung blieb der nunmehr als Friedensfürst gepriesene Günstling der Königin sehr einflussreich.
Francisco de Goya, der Hofmaler
Goya porträtierte Godoy als siegreichen Feldherrn nach einem Feldzug in Portugal, bei dem er der napoleonischen Armee Beistand geleistet hatte. Das Bildnis König Carlos’ IV. (1748–1819) malte er anlässlich dessen Krönung 1789. Der König galt als frommer und sanftmütiger Herrscher, keineswegs ein Machtmensch, allerdings auch leicht beeinflussbar. Die Amtsgeschäfte vertraute er der Königin María Luisa und dem Premierminister Godoy an.
1815 malte er „Fernando VII. im Königsmantel“. Fernando VII. (1784–1833) war der älteste Sohn König Carlos’ IV. und wurde nach dem Rückzug Napoleons wieder als König eingesetzt. Schon bald darauf erhielt der despotisch agierende Herrscher den Spitznamen „El Rey Felon“ (Verbrecherkönig). Er kassierte die liberale Verfassung von Cádiz und errichtete ein zwei Jahrzehnte währendes Regime der Unterdrückung, unter dem auch die Inquisition wiedereingeführt wurde. Selbst Goya musste sich im Alter von 69 Jahren in dieser Zeit einer Überprüfung durch die wiedereingesetzte Inquisition unterziehen. Seiner Entwicklung als kritischer Zeitgenosse und politisierter Beobachter nach der napoleonischen Episode tat dies aber keinen Abbruch.
Zu den ikonischen Darstellungen des Malers gehören die nackte und die bekleidete Maja sowie die zwei selten ausgestellten, aus europäischen Privatsammlungen stammenden Gemälde „Maja und Celestina auf dem Balkon“ und „Majas auf dem Balkon“ – ein Motiv, das 1868 von Manet in seinem bekannten Bild Der Balkon aufgegriffen wurde.
Die bekleidete Maja sollte die nackte Version im Palast Godoys verdecken, und wurde nur in Situationen, in denen sich Godoy sicher und unbeobachtet wähnte, zur Seite bewegt. Selbst der mächtigste Mann des Landes musste die Inquisition fürchten, die Darstellungen nackter Frauen verbot.
In einigen kleinformatigen Genrebildern konnte Goya – ähnlich wie in seinen Zeichnungen und Radierungen – seinen Ideen freien Lauf lassen. In seinen Genreszenen und Historienbildern beleuchtete Goya den bewegten gesellschaftlichen, politischen und religiösen Alltag in Spanien um 1800.
Zu den Schauplätzen gehören dabei Märkte und Stierkampfarenen, Gefängnisse und kirchliche Institutionen, Irrenhäuser und Inquisitionstribunale. Bedrückende und zugleich entlarvende Szenen wie die „Gerichtssitzung der Inquisition“ konnte Goya allerdings nur während der napoleonischen Besetzung des Landes malen, als die Inquisition aufgehoben war.
Von großer Bedeutung sind auch die Hexendarstellungen, in denen Goya den stark verbreiteten Aberglauben in Spanien thematisierte. In der Ausstellung ist zudem neben einer Gruppe von Radierungen aus den „Desastres de la guerra“ eine Auswahl an Blättern aus der 1799 erschienenen Caprichos-Serie zu sehen. Adlige Käufer zahlten hohe Preise für diese Caprichos bzw. „Satiras“, doch der Handel wurde bisweilen von den politischen Verhältnissen gehemmt: So musste 1799 eine Ausstellung Goyas in einem Parfüm- und Likörgeschäft abgebrochen werden, weil die Blätter Klerus und Obrigkeit zu scharf aufs Korn nahmen.
Der späte Goya im Banne der Dämonen
Die Radierung Nr. 43 mit dem programmatischen Titel „Der Schlaf/Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“ ist besonders bekannt. Sie bringt Goyas resignative Einsicht zum Ausdruck, dass die Macht von Vernunft, Witz und Intelligenz doch sehr begrenzt ist.
Überhaupt lässt sich sagen, dass Goyas Bildwelt mit dem Alter immer düsterer und dämonischer wurde. Dazu hat sicher auch der Verlust des Gehörs beigetragen, der ihm eine gewisse Einsamkeit eintrug. Auch die schrecklichen Ereignisse des Bürgerkriegs, der französischen Besatzung und der Wiedereinführung der Inquisition nach dem Abzug der Franzosen müssen Goya bedrückt haben.
In seiner Bildwelt dominierten zunehmend Dämonen und Hexen, Kriegsgreuel und Kannibalen. Goyas wilde, selbstbewusst auftrumpfende Kannibalen wurden gar als Gegenbilder zu Jean-Jacques Rousseaus Naturträumen interpretiert.
Dennoch: In der Moderne sahen Künstler wie Pablo Picasso und Joan Miró, Francis Bacon und die Surrealisten in Francisco de Goya einen Wegbereiter und Geistesverwandten. Auch für zahlreiche zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, unter ihnen Marlene Dumas und Philippe Parreno, stellt der spanische Meister eine wichtige Referenz dar.
Im Winter 2021/22 fand in der nahe Basel gelegenen Fondation Beyeler eine große Ausstellung statt, die die wesentlichen Aspekte in Goyas Schaffen beleuchtete. Eine Kooperation mit dem Madrider Prado ermöglichte diese umfangreiche Schau, die zudem mit Schlüsselwerken aus europäischen und amerikanischen Museen sowie Privatsammlungen bestückt war.
Die Ausstellung umspannte einen Zeitraum vom Spätrokoko bis zur Romantik und demonstrierte den formalen und inhaltlichen Reichtum von Goyas Œuvre, von grossformatigen repräsentativen Gemälden bis zu Skizzenbuchblätter, wobei der Schwerpunkt auf die späte Schaffenszeit gelegt wurde.
Im Auftrag der Fondation Beyeler hat Philippe Parreno einen Film zu Goyas ikonischer Serie der „Pinturas negras“ (Schwarze Bilder) 1819–1824, geschaffen, der im Rahmen der Ausstellung Premiere feierte. Die 14 Wandgemälde befanden sich ursprünglich im Wohnhaus Goyas am Stadtrand von Madrid und waren vermutlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Heute gehören sie zur Sammlung des Prado und können aus restauratorischen Gründen das Museum nicht verlassen. Die langsam wandernde Kamera und die Nahaufnahmen der Gemäldedetails erwecken diese auf eine gruselige Art zum Leben und schlagen eine Brücke zwischen Goyas Zeit und unserer Gegenwart, die auf ihre Weise ebenso von Unsicherheit und Unbehagen geprägt ist. In jedem Fall garantieren Goyas Werke bis heute ein intensives Kunsterlebnis.