Gibt es heute noch männliche Helden? Oder leben wir in einer vollends postheroischen Gesellschaft? Seit Beginn der Moderne sind traditionelle männliche Rollenbilder in der Krise – und „der erschöpfte Mann“ ist mittlerweile ein festes Genre der Kunstgeschichte geworden.
Im Herbst 2020 fand im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich eine Sonderausstellung mit dem Titel „Der erschöpfte Mann“ statt – kuratiert wohlgemerkt von zwei Männern. Juri Steiner und Stefan Zweifel führten durch 2000 Jahre europäische Geschichte. Im Fokus standen Männerbildnisse in der Kunst, männliche Identitäten im Militär, im Sport und in der Wirtschaft sowie männliche Ideale in Philosophie und Ideologien.
Eigentlich ist das eine Aufgabe, mit der sich ein ganzes Museum über Jahrzehnte hinweg befassen könnte. Deshalb beschränkten sich die Macher der Schau ihren Angaben zufolge u. a. auf „den weißen Mann“ – sonst wäre das Thema in einer mittelgroßen Sonderausstellung auch kaum zu bewältigen gewesen.
Der erschöpfte Mann im Spiegel der Kulturgeschichte
Viele historische Fakten und Exkurse konnten also in der Kürze nicht „erschöpfend“ behandelt werden, und so führte der Parcours der Zürcher Ausstellung nur stichprobenartig durch die Kunstgeschichte. Wer weiterrecherchiert, findet heraus: Es gibt eine Fülle antiker, mittelalterlicher, neuzeitlicher und moderner Kunstwerke, die sich mit Männerbildern und Männeridentitäten beschäftigen – und erst recht wird man in der Postmoderne und in der Gegenwart fündig.
Ein Schlüsselwerk in dieser Hinsicht ist die berühmte antike Skulptur des Laokoon mit seinen Söhnen. Dieses Bildnis stellte damals eine künstlerische Neuheit dar: Zeigte die Antike den Mann bislang als stoischen Kämpfer und Athleten, waren im Antlitz von Laokoon Schmerz und Verzweiflung abzulesen.
Ein unbekannter Künstler hatte hier eine Mythologie des Dichters Sophokles in Szene gesetzt: Auf dem Altar des Gottes Apollon zeugt der Priester Laokoon zwei Söhne. Wutentbrannt über diese „Entweihung“ seines Heiligtums schickt Apollon zwei Schlangen, die Laokoons Söhne töten sollen. Der Vater versucht, seine Söhne noch aus dem Würgegriff der Schlangen zu befreien, doch diese töten Vater und Söhne letztlich.
In der Renaissance wurde die Marmorskulptur durch Zufall in Rom entdeckt. Der Fund war eine Sensation, weil das Original bereits von antiken Autoren, z. B. Plinius dem Älteren, hoch gelobt worden war. Es handelte sich ursprünglich um eine um 200 v. Chr. von den Bildhauern Hagesandros, Polydoros und Athanadoros geschaffene Bronzeplastik in Pergamon.
Die 1,84 Meter hohe Marmorkopie, die in Rom gefunden wurde, stammte hingegen aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. oder dem Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. Man fand sie 1506 nahe des Goldenen Hauses Neros auf dem Esquilin. Der kunstsinnige Papst Julius II. schickte Michelangelo zum Fundort, um die Echtheit zu bestätigen.
Daraufhin verleibte Julius das Werk umgehend seiner Privatsammlung ein. Sicher war auch das Thema des Kunstwerks ein Grund für das starke Interesse des Papstes: Der Konflikt zwischen Lust und Religiosität. Wie Apollon sah sich der Papst als Hüter priesterlicher Keuschheit. Heute befindet sich die Figurengruppe in den Vatikanischen Museen in Rom.
In der Fachwelt hält sich übrigens der Verdacht, der Laokoon sei gar keine antike Skulptur, sondern eine Renaissance-„Fälschung“ – und zwar von der Hand Michelangelos persönlich, entstanden zwischen 1498 und 1500. Zuletzt hat die amerikanische Kunsthistorikerin Lynn Catterson diese Ansicht vertreten.
Der deutsche Autor Boris von Brauchitsch verwies darauf, dass Michelangelo bereits eine Fälscher-Vergangenheit hatte. In seiner Jugend verkaufte er eine von ihm geschaffene „antike“ Skulptur an einen Kunsthändler. „Und es ist vielleicht kein Zufall, dass er bei der Entdeckung der Laokoongruppe zugegen war“, vermutet von Brauchitsch:
„Meine Theorie ist, dass er sie heimlich nach alten Beschreibungen (z.B. des Plinius) geschaffen hat, auf dem Esquillin vergraben ließ und dann dafür sorgte, dass sie als antikes Meisterwerk wieder ans Tageslicht kam. Jedenfalls ist mir keine andere antike Skulptur bekannt, die so filigran ist und zugleich derart gut erhalten. Vielleicht war es ja gar nicht so, dass Michelangelo von der Skulptur derart beeindruckt war, dass z.B. seine gefesselten Sklaven von ihr inspiriert erscheinen, sondern umgekehrt: Er hat seinen Stil einfach bei der Laokoongruppe auch schon gepflegt.“ Doch letztlich bliebt all dies hypothetisch, es gibt bislang keine definitiven Belege für eine solche Urheberschaft des Laokoon.
Der Papst interessiert sich für Laokoon: Der erschöpfte Mann – von Gott gestraft
Es fehlten bei der Entdeckung der Plastik je ein Arm Laokoons, seiner Söhne und ein Schlangenkopf. In der Spätrenaissance setzte man an die Leerstelle kraftvoll ausgestreckte Arme, wodurch vor allem die Vaterfigur einen heroischeren Ausdruck erhielt. Doch 1905 wurde der fehlende Arm Laokoons entdeckt und es wurde offenbar, dass dieser angewinkelt und in sich verdreht war, was Vater und Söhne in einer deutlich verzweifelteren Lage zeigte.
2016 wiesen die Berliner Archäologin Susanne Muth und ihr Kollege Luca Giuliani nach, dass ein Schlangenkopf, der in der Renaissance an Laokoons linker Hüfte platziert worden war, eher an dessen Hals zu lokalisieren sei. Somit erscheint Laokoon nicht mehr als kämpfender Held, sondern vollends als hilfloses Opfer von Schicksal und Naturgewalt. Sein muskulöser Körper nützt ihm nichts gegen das tödliche Schlangengift.
Der verzweifelte Kampf Laokoons wurde zu einem häufig imitierten und parodierten Motiv der Kunstgeschichte. Bis heute haben sich zahlreiche Künstler und Künstlerinnen damit befasst, denn die Kraft, die von diesem singulärem Werk zwischen all den hohlen Siegerposen mal stoischer, mal triumphaler Männlichkeit ausgeht, ist bis heute ungebrochen.
Es mutet kurios an, dass Künstler in der Beschäftigung mit einem modern empfundenen Phänomen immer wieder der Autorität eines Kunstwerks der Antike verfallen. Bekanntestes Beispiel dafür dürfte eine Arbeit des belgischen Künstlers Kris Martin sein. Auf den ersten Blick wirkt es wie eine schlichte Kopie, doch dann erkennt man, dass der Figurengruppe die Schlangen abhanden gekommen sind. Die Erschöpfung der dargestellten Männer an sich selbst könnte kaum plastischer dargestellt werden.
Allerdings ist Martins Adaption nicht Bestandteil der Ausstellung in Zürich. Genauso fehlt Bas Jan Ader, den man als Paradebeispiel eines Künstlers betrachten kann, der das Thema „Der erschöpfte Mann“ in seinem Werk hoch und runter dekliniert. Die Filmarbeit „I’am too sad to tell you“ von 1971 hätte der in der Ausstellung viel zu kurz kommenden Nuancierung des Themas ebenso geholfen wie die Dokumentation seines Verschwindens anlässlich eines (hoffnungslosen) Versuchs, den Atlantik in einem winzigen Segelboot zu überqueren („In Search of the Miraculous“, 1975).
Aber es ist wie so oft: Beim Gang durch eine Ausstellung kommen erhellende Momente auch dadurch zustande, dass man die Lücken eines Parcours mit eigenen Assoziationen füllt und sich am Konzept der Kuratoren reibt.
So wird im Rahmen der Ausstellung erstaunlicherweise der Prototyp eines Ganzkörper-Gasmaskenanzugs aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt, der „die Machtlosigkeit des Kriegers im totalen Krieg“ versinnbildlichen soll. Das ist schauerlich anzusehen, aber an Bilderbuch-Stationen wie diesen kommt die Ausstellung vom Thema ab.
Sinnbildlich steht die Laokoon-Gruppe in der Ausstellung für die fragile Figur des männlichen Helden in der Geschichte. Die Ideale von Stärke, Mut und Macht sind wandelbar, und eine männliche Identität, die ausschließlich darauf beruht, erscheint auf Sand gebaut. „Jedes Ideal entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Überforderung, an der der Mann schließlich zerbricht“ – so die Kuratoren der Ausstellung „Der erschöpfte Mann“.
Das Drama der Idealisierung des Mannes wird im Laufe der Geschichte immer wieder in neuer Besetzung aufgeführt – dafür liefert die moderne Kunstgeschichte zahlreiche Beispiele von Männerbildnissen oder Selbstporträts von Malern, Bildhauern und Fotografen, etwa Jürgen Tellers „Selbstoptimierungs“-Porträt oder Ernst Ludwig Kirchners Selbstporträt als müder Trinker.
Mit Beginn der Moderne waren die tradierten männlichen Rollenbilder in Frage gestellt worden. Nicht nur die Fabriken, wo der erschöpfte Mann nur noch Anhängsel der Maschinen war, sondern vor allem die Büros dienten als „Särge der Männlichkeit“, wo Arbeitsteilung, Bürokratisierung und Entkörperlichung der Arbeit vormalige männliche Tugenden wie Mut, Kraft und Impulsivität überflüssig machten.
„Bei all den unterschiedlichen Strategien, Mechanismen und Konstruktionen bleibt das Bild des Mannes mehrdeutig, gefangen zwischen Körper und Geist, stigmatisiert in seiner Dominanz und Aggression, ohnmächtig verstrickt in den tradierten Rollenbildern.“
Juri Steiner und Stefan Zweifel
Neue Krankheitsbilder wie „Neurasthenie“ (Nervosität, Psychosomatik) plagten die Männer im nunmehr „nervösen Zeitalter“. Die Krise der Männlichkeit und eine allgemeine Zivilisationsmüdigkeit wurde auch in der Kunst, Wissenschaft und Philosophie zum beherrschenden Thema der Jahrhundertwende.
Der erschöpfte Mann in der Moderne: Büroplankton, Taschenträger, Kanonenfutter
Auch Friedrich Nietzsche gehörte zu den wichtigsten Stichwortgebern dieses Diskurses, bevor er selbst in den letzten elf Lebensjahren zum Monument des „erschöpften Mannes“ wurde: Spätfolgen einer mutmaßlichen Syphilisinfektion ließen den Philosophen im Bett dahindämmern, von Besuchern nahm er kaum noch Notiz. Stattdessen wurde der Kranke zum unfreiwilligen Motiv für Künstler.
Die Krise der Männlichkeit ist eigentlich kein aktuelles oder postmodernes Phänomen, sondern eine kontinuierliche Begleiterscheinung der Geschichte, in der immer wieder aufs Neue heroische Ideale geschaffen wurden (und werden): Strahlende Siege in Krieg und Sport, selbstherrliche Künstler, Halbgötter aller Art oder gar Abbilder Gottes, gespiegelt in der Kunstgeschichte und Monumentalplastik.
Doch jedes dieser Ideale ist zugleich eine Überforderung, an der „Helden“ und Nacheiferer scheitern. Die Kunst liefert immer wieder Zeugnisse dieser stets gegenläufigen Entwicklung der Idealisierung und De-Idealisierung des Mannes, des ständigen Wechsels von Höhenflug und Absturz und trägt so zum Nachdenken über Rollenbilder und Geschlechterverhältnisse bei.
Abschließend bleibt eines festzuhalten: Das Zürcher Ausstellungskonzept von „Der erschöpfte Mann“ mit seinem Parcours entlang des Scheiterns oder Erschöpfens an männlichen Rollenidealen bis hin zur Befreiung davon im Zuge der Grenzaufweichung bzw. -auflösung sexueller Identität greift viel zu kurz. Wenn die Ausstellungsmacher schreiben, dass wir heute „an einer Schwelle (stehen), wo man sich als Mann neu erfinden kann“ und „jedes Ideal als Spielform der eigenen Existenz“ erscheine, wird klar, dass das Thema die Kuratoren selbst erschöpft hat.
Schließlich wird mit dem (sehr ernsten) „Spiel“ der Selbstfindung und -erfindung, das die Kuratoren von „Der erschöpfte Mann“ so happy-endig beschreiben, die erschöpfende Dimension der moderner menschlicher Existenz erst richtig deutlich.
In seinem Essay „Das erschöpfte Selbst“ hat der französische Soziologe Alain Ehrenberg schon 1998 wertvolle Hinweise dazu gegeben, wie eng die moderne Subjektivität – welchen Geschlechts auch immer – mit der Gesellschaft und ihren Leistungsgeboten verwoben ist.
Er beschreibt darin die Pathologie eines verantwortlichen Individuums, das „sich vom Gesetz der Väter und den alten Konformitätssystemen befreit hat.“ Wir kennen diese Pathologie unter den Namen „Sucht“ und „Depression“. Sie sind für Ehrenberg „wie die Vorder- und Rückseite des souveränen Individuums, des Menschen, der glaubt, der Autor seines eigenen Lebens zu sein, während er doch Subjekt im doppelten Sinne ist: Souverän und Untertan“ zugleich.
Seine Formel für das souveräne Individuum klingt wie ein Gedicht auf das Spannungsfeld, in dem sich unser Innenleben heute bewegt: „Psychische Befreiung und persönliche Initiative, Unsicherheit der Identität und Unfähigkeit zu handeln.“