Der Maler Michel Majerus (1967–2002) gehört zu den bekanntesten Künstlern Luxemburgs – wahrscheinlich ist er sogar der bekannteste, was die Gegenwartskunst betrifft. Sein früher Tod und die tragische Dimension der Umstände führten dazu, dass Leben und Werk des Künstlers noch stärker zu einer Einheit verwuchsen als es sonst schon in vielen Betrachtungen bzw. Publikationen über das Schaffen von Künstlerinnen und Künstlern der Fall ist.
Es ist so einfach wie irreführend, künstlerische Positionen auf das Biografische des Urhebers zurückzuführen. Aber der tödliche Absturz des Flugzeugs, das Michel Majerus im November 2002 von Berlin nach Luxemburg zu seinen Eltern bringen sollte, lässt sich bei der Betrachtung seines Werks bis heute nur schwer ausblenden. Der frühe Künstlertod ist eine bekannte Erscheinung in der romantischen Kunstauffassung, er lässt die Mythen wuchern und lädt zur kultischen Verehrung ein.
Im Fall eines professionellen Managements des Nachlasses lässt sich die Aufmerksamkeit, die ein Künstler zu Lebzeiten genoss, auch posthum halten, wenn nicht sogar steigern. Denn das Publikum liebt tragische Geschichten und Sammler lieben ein begrenztes, nicht mehr wachsendes und durch ein womöglich zweifelhaftes Spätwerk beeinträchtigtes Œuvre. Für die ernsthafte, differenzierte Auseinandersetzung mit dem Werk jung verstorbener Künstler ist das allerdings nicht immer förderlich.
Einerseits repräsentiert Michel Majerus die moderne Kunst Luxemburgs, andererseits gehört er zu jener internationalen Künstlergeneration, die in den 1990er Jahren Berlin für sich entdeckte und die vormals lokale Kunstszene bereicherte, wenn nicht sogar auf den Kopf stellte.
Majerus und der Mythos Berlin in den 90ern
Kunstgeschichte, Werbung, Verpackungsdesign, der erste digitale Boom inklusive Videogames (damals noch weitgehend auf Fight, Jump, Run beschränkt) und eine breite Palette von Warenfetischen (z.B. Sneaker und Automarken), kurzgesagt alle visuell attraktiven Fragmente der Populärkultur bildeten das prall gefüllte Arsenal von Inspirationsquellen; das alles vor dem Hintergrund unendlich vieler Grautöne, Provisorien und hoher Fluktuation im Stadtbild von Berlin-Mitte.
Majerus archivierte und sammelte dieses Material, filmte, fotografierte, fertigte Skizzen an und füllte ca. 50 Notizbücher – wie so viele, die damals große Ateliers in heruntergekommenen und leerstehenden Häusern in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain bezogen. Aus allen Teilen Europas (und darüber hinaus) strömten damals Leute in die wiedervereinigte Stadt, um dort ihrem Traumberuf Künstler eine Chance zu geben.
Majerus kam direkt nach dem Studium an der ABK (Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart) 1992 nach Berlin. Wirklich Fahrt aufgenommen hat seine Karriere aber erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre. In einer großen Ausstellung zur Malerei in den 90er Jahren, „Pittura Immedia“ (gezeigt 1995 in der Neuen Galerie und Künstlerhaus, Graz sowie der Kunsthalle Budapest) kam Michel Majerus noch nicht vor, dafür aber viele Künstler, die heute zumindest international keine Rolle mehr spielen. Ein Jahr später stellte er dann schon im Grazer Kunstverein aus.
Berlin bot damals trotz eisiger Winter und einer bis heute berüchtigten Dysfunktionalität in Verwaltung und Kulturförderung ein kreatives Klima wie kaum eine andere Metropole – bei lachhaft niedrigen Mieten für unsanierte Gewerbeflächen in Gebäuden mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen, einer sich gerade sortierenden Galerielandschaft und vielen Möglichkeiten, die eigenen Werke auszustellen. Bis heute zehrt Berlin mit seinem Stadtmarketing davon und wedelt mit diesem alten einstmals bunten Schleier, auf den nur noch leichtgläubige Touristen hereinfallen.
Aus den vielen zitierten Versatzstücken, die in Michel Majerus’ Werken zu finden sind, ist man vor dem Hintergrund seines frühen Todes versucht, eine Art Künstlerprofil, seine Vorlieben und sein Lebensgefühl zu ermitteln, da er dazu selbst keine Auskunft mehr geben kann. Sicher ist, dass seine ästhetische Methodik der Realismus-Auffassung der Pop Art entstammt, nach der alles, was der Alltagskultur des Menschen zugehört, im Prinzip bildwürdig ist und durch die Verschiebung in die Kunst potenziell Bedeutung erlangen kann.
Das war auch Anfang der 90er längst musealer Standard der Bildenden Kunst. Doch während die klassische Pop Art in der Regel auf wenige Elemente im Werk fokussierte, akkumulierte Majerus eher. Er machte sich darüber hinaus das in der Musik damals schon sehr verbreitete Sampling zu eigen.
Eine kleine Auswahl von Zutaten, die per Folie, Druck oder Malerei auf den Bildträger kamen: Schriftzüge, Logos, Packshots von Produkten, Figuren aus Mangas, TV-Produktionen wie den Teletubbys und Hollywoodproduktionen wie Toy Story, Marylin Manson, Super Mario, Preisschilder, Werbestörer, Comicsprechblasen, eingestreute Zahlen und Buchstaben, Satzfetzen, Motive anderer Künstler, Pinselstriche, die mal wie Farbproben auf die Bildfläche gesetzt sind, mal bewusst eingesetzte Farbnasen erzeugen, dazu immer wieder Kreise, Kästen, Pfeile und Ellipsen.
Nicht zu vergessen bleibt noch viel weiße Fläche, die auf Majerus’ Bildern das Unfertige, Vorläufige und räumliche Weite kultivieren soll. Von einer klassischen Bildkomposition kann bei ihm (wie bei vielen anderen) nicht mehr die Rede sein. Schließlich bilden viele der sehr großen Arbeiten von Majerus in Ausstellungen Bestandteile von umfassenden Rauminszenierungen.
Auch damit wurde in den 90ern auf breiter Front experimentiert: Malerei nicht mehr nur als „Tafelbild“, sondern als Bestandteil von Rauminstallationen oder Rauminszenierungen. Denn mit Malerei allein war als Newcomer damals kaum mehr einen Blumentopf zu gewinnen. Der Konjunkturzyklus des Kunstbetriebs stand damals eher auf Video und „Scatter Art“ (damals z.B. Karen Kilimnik und Sarah Sze).
Die verfügbaren Lücken, als Maler im internationalen Kunstbetrieb zu reüssieren, waren –selbst mit einer großen Portion Talent – sehr schmal. Majerus konnte sich glücklich schätzen, mit der 1994 gegründeten Galerie Neugerriemschneider ein klug agierendes Galeristengespann an seiner Seite zu haben, das den Hype um Berlin in internationales Renommee für die eigene Galerie und die vertretenen Künstler umzumünzen verstand. Seine erste Ausstellung dort datiert im Jahr 1994.
Die Bildzitatmaschine
So wie der einflussreiche Pop Art-Übervater Andy Warhol das Serielle in all seinen Facetten und bis zur Ermüdung durchspielte, zitierte Majerus Fremdschöpfungen und Fragmente in mal maßvollem, oft aber auch kritischem Ausmaß. Manche Werke wirken als wollte er ausloten, wie wenig und wie viel Ramsch der Populärkultur auf einem Bild zu verdichten notwendig ist, um daraus etwas Bleibendes, also Allgemeingültiges zu gewinnen. Oft hat er dabei diese Schwellen auch gerissen.
Es ist oft so, dass ich ganz normale Dinge transformiere, weil sie dadurch auf einmal auffallen – eine Bereicherung von etwas, was eigentlich untergehen würde.
Michel Majerus, 2002
Selbst malerische Details, in denen der Künstler selbst „zum Ausdruck“ kommen könnte, sind bei ihm nur Zitate gestischer Malerei und kein unmittelbarer Impuls. Sie dienen in Majerus’ bildhaften Arrangements der Balance und dem einen großen Augenmerk: nämlich seinen Bildern ein frisches, ewig junges Erscheinen zu verleihen. Daraus speist sich auch die Melancholie, die seine Bilder verströmen. Denn es ist nicht leicht (wenn nicht gar unmöglich) mit saisonalen Zitat-Elementen, die von der „Sensation des Neuen“ leben und schon kurze Zeit nach ihrer Blüte wieder furchtbar alt wirken, etwas über viele Dekaden Bleibendes zu schaffen.
Auch darin strebte Majerus dem Vorbild Andy Warhol nach (von dem er auch selbst eine Arbeit besaß). Warhol gelang diese ewige Frische in seinem Werk – im Gegensatz vieler anderer Künstler der klassischen und neueren Pop Art – immer wieder verblüffend gut. Warhol experimentierte gerne mit verschiedenen Medien, mit traditionellen künstlerischen Techniken und neuen Massenmedien, mit handwerklich-persönlichen und mit industriellen Produktionsweisen. Das interessierte auch Majerus.
Er experimentierte wie viele seiner Generation mit den damals noch begrenzten Möglichkeiten von Adobe Photoshop, z.B. mit dem Wischfingereffekt („Smudge Tool“), und übertrug die Resultate anschließend wieder ins Großformatige, manchmal auch mit Malerei. Angesichts der technischen Weiterentwicklung digitaler Bildgestaltung wirken diese Experimente heute allerdings eher niedlich und betagt. Aber der Produktionsdruck für Michel Majerus muss spätestens ab seinem Museumsdebüt in der Kunsthalle Basel 1996 enorm gewesen sein. Für die im besten Sinne nachdenkliche Reifung im Atelier kann nicht viel Zeit geblieben sein.
Ein Künstler in Entwicklung
Während seine zum Teil riesigen Bilder laut, manchmal regelrecht grell sind, war er selbst wohl eher schüchtern wenn nicht sogar verschlossen. Wie es der Zufall wollte begegneten wir uns damals gelegentlich im labyrintisch verwinkelten Treppenhaus eines unsanierten Wohnblocks in der Schönhauser Allee, weil Michels Freundin dort eine Etage über mir wohnte. Aber mehr als ein paar unverbindliche Sätze, unterlegt mit der szenetypischen Ironie, wurden nicht gewechselt.
Später hatte ich dann wieder im Rahmen der temporären künstlerischen Bespielung des in Sanierung befindlichen Brandenburger Tors (2002) mit ihm zu tun. Der Energieversorger Bewag (später Vattenfall) ließ sich dazu überreden, ein Kunstprojekt zu finanzieren, statt dort – wie zuvor die Telekom – Werbung zu zeigen. So kam neben Thomas Bayrle (für die Westseite des Brandenburger Tors) auch Michel Majerus ins Spiel.
Dabei überraschte er mit seiner sozialkritisch deutbaren Gestaltung der Ostseite des Brandenburger Tors neben dem für das Projekt verpflichteten Kurator Daniel Birnbaum wohl auch alle anderen Beteiligten und das Publikum. Für viele war er zu der Zeit in der Schublade des typischen Shootingstars des Kunstbetriebs, dem es sehr um die Coolness, bildimmanente Aspekte und Fragen der Autorenschaft ging, aber kaum um die soziale Dimension der Kunst.
Majerus ließ eine Fotografie des so genannten „Sozialpalasts“, einem berühmt-berüchtigten Mietshaus und sozialen Brennpunkt in der Pallasstraße (Berliner Stadtteil Schöneberg), in das Prachtensemble am Pariser Platz einfügen – die repräsentative „Gute Stube“ des wiedervereinigten Berlins.
Michel Majerus – das Nachleben
Manchmal fragt man sich, wie die weitere künstlerische Entwicklung von Majerus verlaufen wäre, wenn sie nicht durch ein plötzliches Unglück ein jähes Ende erfahren hätte. Sicher wäre die räumliche Dimension seiner Arbeiten noch stärker zum Tragen gekommen. Und wer weiß, ob sich auch die soziale Komponente der Kunst weiter Raum in seinem Werk verschafft hätte?
Zurück bleibt aber nicht nur ein qualitativ heterogenes Gesamtwerk, das – der kurzen Wegstrecke des Künstlers geschuldet – von vielen guten und manchen gescheiterten Experimenten geprägt ist. Denn es gibt eben auch einen Nachlass, der sich als Gegenstand der kunsthistorischen Forschung anbietet. Diesen Nachlass betreut das Michel Majerus Estate. Seit 2012 befindet es sich im Prenzlauer Berg, in den ehemaligen Atelierräumen des Künstlers.
Der umfangreiche Nachlass hätte bei Auktionen sicherlich ordentliche Summen eingespielt, doch die Familie Majerus entschied sich gegen die schnelle Veräußerung. Sie verfügte, dass das Material für Kunst und Wissenschaft zugänglich gemacht werden sollte. Auch auf diese Weise soll Majerus’ Werk präsent, relevant und wertstabil bleiben.
Die enge Anbindung des Estates an die Galerie, die Majerus vertrat (Neugerriemschneider), macht diese Konzeption für den Nachlass nachvollziehbar. Er soll als Impulsgeber der zeitgenössischen Kunst dienen, z.B. durch Wechselausstellungen, in denen Arbeiten von Majerus anderen Positionen gegenübergestellt werden, um deren Verbindungen aufzuzeigen. So bleibt eine relativ kurze Schaffenszeit mit noch kürzerer internationaler Ausstrahlung über Dekaden der Pflege des Nachlasses lebendig – nicht nur im Diskurs, sondern auch im Markt.
Man kann sich also ziemlich sicher sein, dass die posthume Retrospektive zum 10. Todestag von Michel Majerus in Stuttgart (2012) nicht die letzte gewesen sein wird. Und man darf gespannt sein, in welcher Größenordnung zum 20. Todestag 2022 des Künstlers gedacht wird.
2 comments
Hallo Steen,
Großartig und einfühlsam geschrieben!
Ich ärgere mich das ich mir dieses fantastische Kunstprojekt am Brandenburger Tor damals nicht angesehen habe …..
Danke, Bert!