Wie im ersten Teil dargelegt, ist Frida Kahlo die populärste Künstlerin aller Zeiten. Wie erreichte sie diese prominente Position? Und: Was sagt der Kahlo-Kult über unsere Gesellschaft aus?
Frida hatte einen interessanten „Migrationshintergrund“, wie es im Soziologendeutsch heißt. Ihr Vater Carl Wilhelm Kahlo war 1891 aus Pforzheim nach Mexiko ausgewandert, wo er eine Analphabetin aus der Provinz Oaxaca heiratete. Der Bundesstaat Oaxaca hatte einen hohen indigenen Bevölkerungsanteil.
Ihre Tochter nahm selbst eine indigene Identität an und kleidete sich demonstrativ in der traditionellen Tracht jener Region. Das Bekenntnis zu den indigenen Wurzeln war damals noch eine Provokation – und wirkte zukunftsweisend für die hybriden nationalen Identitäten im Lateinamerika der Gegenwart.
Nicht von ungefähr gilt die Künstlerin, die sich zudem als leidenschaftliche linke Nationalistin und Revolutionärin äußerte, heute als Pionierin einer vielschichtigen mexikanischen Nationalidentität. Auch in ihren Bildern bezog sie sich auf die Symbolik der Azteken und Maya.
Während sich einige ihrer Gemälde mit sozialen und politischen Problemen befassen, kreisen die meisten Arbeiten jedoch um sie selbst: Ein gutes Drittel der erhaltenen Gemälde besteht aus Selbstporträts. Immer wieder versucht sie, körperliches und psychisches Leid mit Hilfe der Kunst zu artikulieren, zu bewältigen oder zumindest zu lindern.
„Für mich ist sie eine beeindruckende Kombination aus der Verkörperung der weiblichen Mystik, dem Spirituellen, und politischer Aktivitäten, dem Weltlichen. Beides zu vereinbaren und dabei noch in Kunstwerken auszudrücken beeindruckt mich immer wieder sehr.“
Iyonne Mackenroth, Yoga- und Sportlehrerin, Calden bei Kassel
In Mexiko durchaus verehrt, war sie nach ihrem Tod 1954 international nahezu unbekannt. Eine Schule im eigentlichen Sinne hat sie nicht begründet, obwohl sie eine Zeitlang Professorin an der Akademie La Esmeralda war. Kahlos farbenfrohes „Casa Azul“ ist zwar schon seit 1959 als Museum eingerichtet, verzeichnete aber jahrzehntelang niedrige Besucherzahlen. In den 1970er Jahren wuchs die Wertschätzung der Künstlerin auch außerhalb Mexikos, angeregt von der feministischen Bewegung in den westlichen Industriestaaten.
Frida wird trendy in den 1980ern
Große internationale Ausstellungen dienen als Meilensteine dieser Wiederentdeckung, so die 1982 die Wanderausstellung „Frida Kahlo – Tina Modotti“ mit Stationen in London, Berlin und Hamburg. Die Hollywood-Produktion „Frida“ machte sie 2002 schlagartig einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die Verfilmung mit der mexikanischen Schauspielerin Salma Hayek als Hauptdarstellerin und Ko-Produzentin basierte auf der 1983 von der amerikanischen Kunstwissenschaftlerin Hayden Herrera verfassten Biografie.
Allerdings: „Frida Kahlo hätte es im Tiefsten ihrer Seele verabscheut, sich auf Englisch sprechen zu hören, wo sie doch die Gringos immer so hasste“, monierte die mexikanische Zeitung Reforma bei Erscheinen des Films.
Nunmehr stiegen die Besucherzahlen in der Casa Azul stark an und Ausstellungen mit ihren Werken wurden zu Blockbustern, etwa 2006 die Schau im Hamburger Bucerius Kunst Forum mit rund 175.000 Besuchern oder die große Jubiläumsausstellung 2007 in Mexiko-Stadt.
2018 zog die Ausstellung Making up herself im renommierten Londoner Victoria and Albert Museum über 200.000 Besucher an. Erstmals wurden ihre private Gegenstände, darunter Kleidung und Prothesen, einem großen Publikum präsentiert. Ob die mexikanische Künstlerin diese Zurschaustellung ihres versehrten Lebens gewollt hätte?
Die Einheit von Leben und Werk verleiht Kahlo bis heute Authentizität – ebenso ihr Kampfgeist und ihr Selbstbehauptungswille trotz schwerer körperlicher Behinderung, chronischer Schmerzen und Benachteiligung durch den alltäglichen Machismo.
Ihre eindringliche Selbstbefragung in den Porträts und das Zelebrieren einer coolen Haltung in verzweifelter Lage imponieren. Die Dissonanz von Leid und Lebenslust, von Blut und froher Farbigkeit bewegt das Publikum. Und die leicht lesbaren Bildmotive mit christlicher Symbolik, subtropischen Pflanzen und Tieren tragen zu einem positiven „Kunsterlebnis“ auch bei jenen bei, die sich im Museum sonst eher unwohl fühlen.
Frida Kahlo – noch immer eine politisch relevante Künstlerin
All diese Aspekte zusammen machen die Künstlerin zur populärsten Künstlerin der Gegenwart. Diese Beliebtheit und Sichtbarkeit ermöglichen dem heutigen Publikum erst die tiefere Beschäftigung mit ihrer Gedanken- und Lebenswelt – einer Lebenswelt, deren Konflikte und Probleme auch heute, auch für uns, unverändert aktuell sind: Benachteiligungen von Frauen, Rassismus, Ausbeutung, globaler Nord-Süd-Gegensatz.
„Kunst im 20. Jahrhundert suchte immer die Grenzen der Kunst zu überschreiten, also ‚Grenzwertiges‘ und Kunstfernes in die Kunst zu integrieren. Bei Frida Kahlo ist es die Integration des kaputten Körpers und seiner Prothesen, Medizin und Drogen, mithin auch das Unweibliche und Hässliche.
Dann der Umgang mit ihrem dicken Mann und seinen Affären, die sie auch progressiv integriert und gewendet hat. Dasselbe gilt für die Aneignung der ganzen indigenen Kultur, ohne das zu verkitschen oder zu funktionalisieren, wie es Rivera tendenziell tat.
Dieses Collagenartige, die Assemblage und die nüchterne und selbstbewusste Integration und Öffnung für Prothesen, Schmerz, ‚hässliche‘ Augenbrauen und Damenbart, das war damals spezifisch feministisch, aber unprätentiös und ungewollt.
Fridas Kunstkonzept war in gewisser Weise das Gegenstück zu Rivera und seiner Kunst. Rivera steht für den fordistischen (d. h. einen industriell und technokratisch geprägten) Sozialismus, Kahlo für die Mikropolitiken der Neuen Sozialen Bewegungen.“
Frank Engster, Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin
Von der politischen Signalwirkung abgesehen, wird Frida heute geradezu wie ein „Emotionsmonster“ rezipiert: In ihrer Verehrung manifestieren sich Wünsche nach Leidenschaft, nach emotionaler Stärke, Widerständigkeit und Lebensintensität, die in unserer nach Desinfektionsmittel riechenden Vollkasko-Gesellschaft vermisst werden.
„Bei meinen Studierenden habe ich beobachtet, dass sich gerade junge Frauen sehr von Kahlo angezogen fühlen. Sie schätzen die surrealen Züge in deren Malerei und die Lesbarkeit der Bilder. Mir scheint es so, dass sie sich innerlich wiederfinden, und ich könnte mir denken, dass dies etwas mit eigenen Verletzungen zu tun hat, die man im jungen Erwachsenenalter reflektiert.“
Prof. Dr. Sigrid Hofer Philipps-Universität Marburg Kunstgeschichtliches Institut
Zugleich, und das ist ein Charakteristikum jeglicher Kommerzialisierung von Gefühlen, wird die Sehnsucht nach Emotionalität zum lukrativen Geschäftsmodell in dieser unserer „verwalteten Welt“. Wohldosiert lässt sich Leidenschaft mit Hilfe einer breiten Frida-Produktpalette erwerben und ausleben.
Doch die kommerzielle Dimension des Phänomens „Frida“ muss kein Nachteil sein. Die Blockbusterausstellungen und die große kommerzielle Produktpalette, die manche Kunstkenner abstoßen, bilden eigentlich nur jenen weiten gesellschaftlichen Resonanzraum, den sich die Künstler der Moderne immer gewünscht haben.
Alle, die Kunst nicht als Reservat der Hochkultur betrachten, sondern ihre Zugänglichkeit für breite Schichten wünschen, können sich über Frida Kahlos Popularität freuen. Zudem die massive visuelle Präsenz als „Ikone“ vielen erst die tiefere Beschäftigung mit Frida Kahlos Gedanken- und Lebenswelt ermöglicht – einer Lebenswelt, deren Konflikte und Widersprüche auch heute, auch für uns, unverändert aktuell sind.
„Ich glaube, Frida Kahlo ist nie out. Nicht so lange keine absolute Geschlechtergerechtigkeit herrscht und das Thema Feminismus nach wie vor aktuell ist.“
Madeleine Frey, Leiterin der Galerie Stadt Sindelfingen, Juni 2020