Clara von Rappard war zu Lebzeiten die bekannteste Künstlerin der Schweiz. Doch nach ihrem Tod geriet sie für lange Zeit in Vergessenheit. Sie hatte beste persönliche Voraussetzungen für eine Karriere und litt doch unter den damaligen gesellschaftlichen Beschränkungen für Künstlerinnen.
Zu allen Zeiten haben Frauen zur schöpferischen Produktion der Menschheit beigetragen. Doch erst seit 100 Jahren haben sie die Möglichkeit, auch hauptberufliche und anerkannte Künstlerinnen zu sein. Wenige Ausnahmen gab es schon seit der Renaissance, doch noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert war die patriarchalisch geprägte Gesellschaft nicht bereit, Frauen eine professionelle künstlerische Ausbildung zuzugestehen und sie als eigenständige Schöpferinnen zu akzeptieren.
Die Begabung von Clara Julia Elisa von Rappard (1857-1912) wurde von den Eltern erkannt und gefördert, aber letztlich wurde das familiäre Anwesen der Villa Rugen bei Interlaken zu einem Goldenen Käfig. Chancen und Hindernisse für eine bürgerliche Karriere als Künstlerin am Ende des 19. Jahrhunderts lassen sich in ihrem Fall exemplarisch erörtern. Ihre Familiengeschichte ist eng mit der touristischen Entwicklung des Berner Oberlands verknüpft.
Ihr Vater, ein wohlhabender politischer Flüchtling und Unternehmer aus Deutschland (er war 1848 Mitglied des Frankfurter Paulskirchenparlaments), war zeitweilig Besitzer des legendären Grandhotel Giessbach am Brienzer See. Er kam auf die Idee, die benachbarten Giessbachfälle für Spaziergänger und Hotelgäste zu erschließen und nachts mit Hilfe eines Schweizer Pyrotechnikers mit bengalischen Feuern zu beleuchten – ein frühes Beispiel für Landschaftsinszenierung und Eventtourismus in der Schweiz.
Die Eltern gaben Clara zahlreiche Gelegenheiten, Unterricht zu nehmen, wenngleich es damals für Frauen kaum möglich war, eine professionelle Ausbildung an einem Stück zu erhalten. Die meisten Kunstakademien bleiben ihnen verschlossen, und so mussten sie sich statt eines Kunststudiums ihre Ausbildung mit einzelnen Kursen und Privatstunden zusammenstückeln.
Diese Art von Ausbildung war nicht nur umständlich und oftmals durch die Durchmischung der Kurse mit Hobby-Künstlerinnen wenig effektiv, sondern auch noch teuer: So war um die Jahrhundertwende von Ausbildungskosten für Künstlerinnen von 3000 RM auszugehen, während die Akademiegebühren für Männer bei etwa 120 RM lagen.
Ein wichtiges Hemmnis für die künstlerische Aktivität von Frauen bildeten die damaligen Moralvorschriften. Viele Dinge, die heute für Künstlerinnen als selbstverständlich gelten, waren bürgerlichen Frauen damals verwehrt oder galten als so anrüchig, dass Frauen damit ihren Ruf riskierten: etwa alleine zu reisen, Hotelzimmer zu buchen, in eine Großstadt zu ziehen, eine Wohnung zu mieten, alleine durch die Stadt zu flanieren, eine Bar zu besuchen, einen Künstler im Atelier zu treffen, Modell zu stehen, nackte Modelle zu malen, ja selbst die Pleinairmalerei, das Malen in der Natur unter freiem Himmel, galt für Damen als unschicklich.
Die Frauen, die nicht als Ehefrauen und Mütter ihre schöpferische Tätigkeit aufgaben, sondern an einer eigenständigen Künstlerinnenlaufbahn festhielten, hatten oftmals einen hohen Preis zu zahlen. Zum einen blieben sie jahre- und jahrzehntelang in wirtschaftlicher Abhängigkeit von ihren Eltern, weil sich die Ausbildung so lange hinzog und sie nichts verdienen konnten.
Zum anderen galten sie weithin als gesellschaftliche Außenseiterinnen, als skurrile „Malweiber“, blieben oftmals unverheiratet und kinderlos, oder manchmal in tragischen, aufreibenden Beziehungen mit Künstlern (die dann Karriere machten) gefangen – wie beispielsweise Marianne von Werefkin. Auch im 20. Jahrhundert war diese Konstellation noch häufig anzutreffen, etwa bei Lee Krasner und Jackson Pollock.
Ersten Zeichenunterricht erhielt Clara bereits im Alter von elf Jahren bei dem damals 19jährigen ungarischen Künstler Döme Skutezky in Venedig; in den folgenden Jahren reiste sie oft in den Sommermonaten nach Rom und in den Wintermonaten nach Berlin, um Unterricht bei verschiedenen Künstlern zu nehmen. Einige unterhielten sogenannte Damenateliers für angehende Künstlerinnen, manche hielten bewusst einen „Dilettantenunterricht“ für die Frauen ab, weil sie sie ohnehin nicht als ernstzunehmende Künstlerinnen wahrnahmen.
„Dilettantenunterricht“ für Clara von Rappard
In einem Hotel lernte die Familie zufällig Friedrich Kaulbach kennen, zeitweilig Hofmaler des Welfenkönigs in Hannover, der einwilligte, Clara zu unterrichten – während Conrad von Rappard im Gegenzug anbot, von Kaulbach bei Anlageproblemen zu helfen. Kaulbach war allerdings nicht unbedingt ein motivierender Lehrer. Er prognostizierte der talentierten Jugendlichen, sie müsse sicher noch zehn Jahre lernen, bis sie es allenfalls zu sporadischen Auftragsarbeiten bringen könnte.
Schließlich wurde 1876 gegen den Widerstand von Anton von Werner auch eine provisorische Damenklasse in der Berliner Kunstakademie unter der Leitung von Karl Gussow eingerichtet, wo Clara von Rappard in einem professionellen Umfeld lernen konnte (regulär durften Frauen dort aber erst ab 1919 studieren). Mit den Kolleginnen in der Damenklasse verstand sich Clara gut, in ihrem Tagebuch schwärmte sie von der brüderlichen Schar, die auch gemeinsame Atelierfrühstücke veranstaltete:
„Wir machten oft etwas Gemeinschaftliches, wer etwas Gutes mithatte, verteilte es unter allen, und wer in eine Galerie gehen wollte, frug die anderen, ob sie nicht mitwollten.“
Clara von Rappard, zitiert in: Carola Muysers (Hg.), Clara von Rappard. Freilichtmalerin 1857-1912, Interlaken 2012 (Katalog).
1873 malte sie ihr erstes Porträt bei der Schweizer Malerin Anna Susanne Fries in Florenz, wo sie auch Figuren-, Gewand- und Aktzeichnungen anfertigte. Der renommierte Künstler Adolf von Menzel, dem sie 1871 erstmals in Berlin begegnete, wurde ihr künstlerischer Berater. Prägende Wirkung hatte auch ein Besuch bei Arnold Böcklin in Zürich 1887.
Clara von Rappard war damals auf zahlreichen Ausstellungen in der Schweiz und anderen europäischen Ländern vertreten, auch bei der Weltausstellung in Chicago 1893. Sie führte ein regelrechtes Jet-Set-Leben, wie man es heute nennen würde. Sie reiste zwischen Deutschland und der Schweiz hin und her, unternahm zahlreiche und ausgedehnte Reisen nach Italien, Frankreich und England; 1874 beispielsweise besuchte sie Budapest, Athen, Istanbul und das Schwarze Meer.
Ihr politisch gut vernetzter und als Unternehmer erfolgreicher Vater setzte seine Kontakte für sie ein, um ihr künstlerische Lernerfolge und Auftragsarbeiten zu verschaffen. In der Porträtmalerei zeigte sie schon früh Talent. Ihre halb- und ganzfigurigen Darstellungen von Männern und Frauen zeichnen sich durch eine besondere psychologische Beobachtungsgabe aus.
Die ersten Modelle waren Verwandte, dann folgten Aufträge aus dem näheren und entfernteren Freundes- und Bekanntenkreis. Von Gussow hatte sie die Vorgehensweise übernommen, das Motiv mit einem Blick zu erfassen und es dann so schnell wie möglich in Allaprimatechnik auf Leinwand zu bringen. Oftmals gelang ihr das mosaikartige Zusammenspiel von Licht- und Schattenpartien und die feine Ausarbeitung der Charakterzüge der Portraitierten.
Anfang der 1880er-Jahre entdeckte von Rappard die Pleinairmalerei für sich. Naheliegend war es, Ansichten der beeindruckenden Oberländer Gebirgslandschaft im Wechsel der Witterung darzustellen, vor allem das Jungfrau-Massiv, das sich von Interlaken gut beobachten lässt, hatte es ihr angetan (wie Millionen Touristen bis heute). Mit ihrer Technik – beispielsweise im Gemälde “Jungfrau im Nebel” von 1888 sichtbar (s. u.) – hob sie sich deutlich von der Malerei ihrer Zeit ab.
Eine Reihe von Schicksalsschlägen bremste Clara in ihrer zweiten Lebenshälfte – und verhinderte indirekt auch eine breitere Rezeption ihres Werks. 1876 starb ihr Reisebegleiter Raul von Leeden, mit dem sie sich gerade verlobt hatte. Der Tod des Vaters folgte 1881, und um 1890 erkrankte Clara von Rappard mutmaßlich an Multipler Sklerose.
Nachteilhaft war, dass sie nach dem Tod des Vaters in enger Symbiose mit der Mutter lebte, was kaum noch persönliche Freiräume ermöglichte. Auch die Reisen in die europäischen Kunstmetropolen unternahmen Mutter und Tochter stets zusammen (etwa nach Paris, wo Clara 1889 und 1890 im Salon ausstellen konnte).
Ihr gesundheitlicher Zustand mag dazu beigetragen haben, dass die Künstlerin ihr Leben fortan im engen Umfeld der Familienvilla verbrachte und allenfalls im Umland auf Motivsuche ging. Im Alter von 55 starb Clara von Rappard. Sie hinterließ ein großes Œuvre an Porträts, Landschaften, symbolistischen Werken sowie Zeichnungen und Illustrationen.
Ein Großteil der Arbeiten befindet sich heute im Privatbesitz. 1944 ging bei der Versteigerung des Inventars der Villa Rugen einiges verloren. Œuvre und Inneneinrichtung wurden zerstreut. In den 1960er Jahren wurde das Gebäude abgerissen. Was blieb war der von Conrad von Rappard gestaltete Landschaftspark auf dem Hügel rund um die Villa. Heute erinnert die „Gesellschaft Clara von Rappard“ in Interlaken an sie, während ein Themen-Wanderweg rund um ihren früheren Wohnort über Stationen ihres Lebens und über Motive ihrer Landschaftsmalerei informiert.