Der Surrealismus – entstanden in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – ist vermutlich der beliebteste aller Kunststile. Eine Reise durch die Bildwelten des Internets, das Surfen auf Pinterest, Instagram und anderen sozialen Netzwerken zeigt die weite Verbreitung surrealer Motive und Gestaltungselemente. Aber warum gerieten die meisten Surrealistinnen in Vergessenheit?

In immer neuen Varianten begegnen uns rosa Wolkenmeere, weite wüstenartige Ebenen, leere Stadtplätze, Landschaften bevölkert von Puppen, Marionetten, aus Eiern schlüpfenden Fabelwesen, Augen ohne Gesicht, Gesichter ohne Augen – und all das immer wieder kombiniert mit halbnackten und nackten Frauenkörpern, mal vollständig, mal kopflos, mal nur als Torso.

Würde man eine Umfrage über den beliebtesten modernen Kunststil organisieren, könnten der Surrealismus oder Magische Realismus mit Abstand gewinnen. Verglichen mit dem Impressionismus, der technisch anspruchsvoller ist, bietet der Surrealismus einen niedrigschwelligen Einstieg – auch ohne große Begabung.

Scheitern Hobbykünstler beispielsweise an der Darstellung eines Gesichts, dürfen sie den Kopf der Figur gerne weglassen wie René Magritte. Wer kennt nicht die vielen Varianten von schwer definierbaren organischen Formen, die uns irgendwie an Francis Bacon erinnern? Beliebt auch: etwas zerfließen lassen wie Salvador Dalís Uhr und verrenkte Glieder wie bei Hans Bellmers Puppen. Wer online durch die Angebote kleinerer Auktionshäuser streift, findet mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Nachlässe von allenfalls lokal bekannten Künstlern, deren Bilder vor leichenblassen Schönheiten oder Säulenarchitektur à la Paul Delvaux wimmeln, ergänzt vielleicht gar um ein Kätzchen frei nach Balthus. Die ganz persönliche Spezialität sind möglicherweise einige Science-Fiction-Elemente oder leere Sprechblasen: Das sagt mehr als tausend Worte.

Relativ häufig begegnen uns diese giftigen Mischungen auch in der Kreisklasse des Kunsthandels, auf Kunstflohmärkten und – unvermeidlich – auch im Wartezimmer niedergelassener Ärzte. Gerne dürfen auch Illustriertenfotos oder Fundsachen unverändert auf die Leinwand geklebt werden. Und jeder beliebige Materialmix von Alltagsgegenständen ergibt automatisch eine rätselhafte surreale Aussage. Das „Gestaltungsprinzip Zufall“ macht den Surrealismus so benutzerfreundlich.

Manchmal sind diese Motive technisch durchaus überzeugend gearbeitet, greifen aber auf überstrapazierte Formen oder zu klischeehafte Motive zurückgreift. Davor sind selbst Künstler von internationalem Rang nicht gefeit. Auch der Künstler Neo Rauch warnt vor den Gefahren handwerklicher Perfektion: »Man kann sich in Selbstverliebtheiten verwickeln, in Routineabläufe. So ein gewisser Schliff im Handgelenk kann auch zu sehr öligen, unangenehmen Resultaten führen.«

Ähnlich unangenehm können Bildfindungstechniken sein, die nach immer gleichem Schema ablaufen. Besonders gern wird auf die Konfrontationen von Gegensätzen zurückgegriffen. Dabei entstehen oft banale Mixturen, die schlicht den gängigen Strategien in der Werbekommunikation entsprechen.

Doch der Hauptgrund für die ungebrochene Beliebtheit des Surrealismus lautet: Sex. Diese Kunstrichtung bietet Künstlern, Fotografen und Hobbymalern die Möglichkeit, der eigenen – oftmals ziemlich eindimensionalen – Fantasie freien Lauf zu lassen und softpornografische Darstellungen zu Kunstwerken aufzuwerten. In gewisser Weise reflektiert dieses Erbe den Webfehler der surrealistischen Idee, die – unter dem Einfluss der Psychoanalyse Freuds und den desaströsen Verwerfungen des Ersten Weltkriegs – eine vor allem männliche Bewegung hervorbrachte.

Mit dem Hippie-Lifestyle und der psychedelischen Drogen-Ästhetik der 1970er trat der Surrealismus mit Macht in die Alltagskultur ein. Filme von Louis Buñuel wurden populär, Monty Python reüssierte mit absurdem Humor,Salvador Dalí erlebte ein Revival. Ob Plattencover, Batik-Look, Airbrush-Malerei auf der Motorhaube oder Lavalampen im Wohnzimmer – surrealistische Gestaltungselemente verbreiteten sich rasant in Popkultur, Mode und Design. So haben sich bis heute Techniken und Bildwelten des Surrealismus tief in der volkstümlichen Sphäre von Hobbymalerei, Posterkunst und erotischem Kitsch verankert. 

Die Weichen dafür haben die bis heute berühmten surrealistischen Meister gestellt, denn sie waren geradezu vom weiblichen Körper besessen. In ihren Gedichten, Romanen und Bildern rühmten, verfremdeten und zerlegten sie Frauenkörper in jeder erdenklichen Weise, machten kopflose Gliederpuppen, Maschinen, Göttinnen und Traumwesen daraus. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit dominieren bis heute die Namen Bildender Künstler wie Magritte, Ernst oder Dalí.

Surrealistinnen als Verliererinnen der Kunstgeschichte

Das weibliche Element dieser Künstlerbewegung schien sich in der Motivwahl, in der Modell-Tätigkeit zu erschöpfen – von aktiven Surrealistinnen war kaum die Rede. Tatsächlich aber gab es eine ganze Reihe von Künst­le­rin­nen, die persönlich mit der Anfang der 1920er-Jahre in Paris gegrün­de­ten surrea­lis­ti­schen Bewe­gung verbun­den waren. Die Gruppierung um den Dichter André Breton war zunächst eher eine literarische Erscheinung gewesen. Bretons Roman “Nadja”, der von der Begegnung des Dichters mit Léona Delcourt und ihren Briefen an ihn inspiriert ist, stellt ein programmatisches Zeugnis dafür dar. Die Bildende Kunst spielte erst ab 1930 eine größere Rolle.

André Breton: Nadja
André Breton: Nadja

Künstlerinnen gelangten zunächst als Partnerinnen oder Modelle in die Kreise der Surrealisten. Sie waren in der Regel wesentlich jünger als die Männer und kamen nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus Lateinamerika, den USA und diversen europäischen Ländern. Die Bewegung des Surrealismus war damals für junge künstlerisch orientierte Frauen durchaus attraktiv: international, liberal, experimentell, progressiv. Und Paris war noch immer der Nabel der Kunstwelt. Erst mit der Nachkriegszeit und dem Kalten Krieg setzte eine reaktionäre Wende ein, die die Frauen wieder in angestammte Rollenbilder zurückdrängte und ihren Beitrag zu Kunst und Kultur klein redete.

Die surrealistische Bewegung galt mit dem Krieg, mit der deutschen Besetzung von Paris, als erledigt. Nach dem Krieg dominierte im Ostblock monumentale Propagandakunst mit starken Arbeitern und folgsamen Traktoristinnen, im Westen promoteten die USA einen ebenso monumentalen Abstrakten Expressionismus, der von männlichen Maler-Berserkern wie Jackson Pollock zelebriert wurde. So wurden die Frauen regelrecht aus der Kunstgeschichte herausgeworfen, sie schienen im Surrealismus keine Rolle gespielt zu haben. Heute ist es kaum zu glauben, dass eine Ikone wie Frida Kahlo bei ihrem Tod nahezu vergessen war.

Auch die Baslerin Meret Oppenheim fiel in der Nachkriegszeit in ein Loch. 1936 war ihr ein Coup gelungen – das New Yorker Museum of Modern Art Oppenheims nahm ihre „Pelztasse“ in seine Sammlung auf. Die Tasse ist bis heute eines der bekanntesten surrealistischen Objekte überhaupt. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz berichtete Oppenheim von einer achtzehn Jahre dauernden künstlerischen Schaffenskrise. Mit dem „Meret-Oppenheim-Brunnen“ setzte die Stadt Bern der Künstlerin 1983 zwar ein spätes Denkmal, doch gilt das Werk als umstritten. Die mit Moos und Tuffstein überwucherte Betonsäule wollte Oppenheim als „Symbol des Wachsens und des Lebens“ verstanden wissen. Die Öffentlichkeit hingegen dankte ihr dies mit Protesten und schmähte den Brunnen als „Tiefgaragen-Abluftrohr“. 

Surrealistinnen wie Meret Oppenheim wurden von der Kunstgeschichtsschreibung oft vernachlässigt: Meret Oppenheim Brunnen in Bern Waisenhausplatz
Der Meret-Oppenheim-Brunnen in Bern heute.

Zurück ins Paris der Zwanziger Jahre: Die Frau – vor allem ihr Körper – stand im Mittelpunkt surrealistischer Männerfantasien und bildete das wichtigste Bildmotiv. Das klassische Setting des aktiven Malers und des passiven weiblichen Modells galt anfänglich auch in dieser neuen, unkonventionellen Künstlerbewegung. Die jungen Surrealistinnen wählten jedoch bald eine andere Perspek­tive. Zahlreiche ihrer Selbstporträts und Darstellungen von Frauen sind geprägt von einem spielerischen, selbstbewussten Umgang mit dem Körperbild und der weiblichen Sexualität.

Auffällig ist das Element des ungebändigten weiblichen Haares, das in vielen Bildern auftaucht, etwa bei Dora Maar oder Leonora Carrington. Das wilde, „unfrisierte“ Haar wird hier offenbar als Zeichen weiblicher Stärke und selbstbewußter Attraktivität eingesetzt. Wie erwähnt war der Blick auf die Frau, der „begehrliche Blick“, ein Hauptmotiv der männlichen Surrealisten.

Die Surrealistinnen drehten das Maler-Modell-Verhältnis um

Künstlerinnen wie Leonor Fini drehten die Perspektive um. Ihr Werk enthält viele Männerakte, die von starken Frauenfiguren geleitet oder bewacht werden. Die naturalistisch ausgeführten Gemälde zeigen bemerkenswerte Motive: Da weist eine selbstbewusste Dame im schwarzen Kleid dem nackten Jüngling den Weg ins Turmzimmer, oder es wacht eine dunkelhäutige Sphinx über den schlummernden Mann. Ihre Geliebten „Nico“ und „Sforzino“ stellte Fini schlafend dar. Lang hingestreckt, zierlich gebaut und unbehaart, wirken sie schutzlos wie Welpen im dunklen Wald (mehr über sie und ihre Werke auch hier).

Die Frankfurter Kunsthalle Schirn widmete sich den bekannten und weniger bekannten Surrealistinnen.

Es ist an der Zeit, den Beitrag von Künstlerinnen zum Surrea­lis­mus angemessen zu würdigen. Die kunstwissenschaftliche Forschung und zukünftige Ausstellungsprojekte sollten die herkömmliche Kunstgeschichte gegen den Strich bürsten: Die Rollen von Frauen erschöpften sich nicht im passiv-lasziven Modell, in der ehrfürchtigen Schülerin oder im verliebten Groupie.

Vielmehr agierten Frauen wie Lee Miller, Gisèle Prassinos, Joyce Mansour, Claude Cahun oder Dorothea Tanning in den Strömungen und Spielarten des Surrealismus als aktive Künstlerinnen und boten ein viel­fäl­ti­ges stilis­ti­sches und inhalt­li­ches Spek­trum. Dabei konnten sich nur wenige wie Louise Bour­geois, Frida Kahlo oder Meret Oppen­heim einen Namen machen. Zahl­rei­che unbe­kannte oder vergessene Künstlerinnen warten darauf, wieder entdeckt zu werden.

Claude Cahun, Ohne Titel (Claude Cahun in Das Mysterium Adams), 1929
Claude Cahun, Ohne Titel (Claude Cahun in Das Mysterium Adams), 1929

Beitragsbild oben: DDP auf Unsplash

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