Ernst Ludwig Kirchner ist heute als expressionistischer Künstler bekannt. Um sein Leben ranken sich allerdings auch zahlreiche Legenden und Skandale. Die moderne Kunstgeschichte ist untrennbar mit Skandalen und Legenden verbunden. Wann immer es um den Übergang zu einem neuen Stil oder um den Auftritt junger, unbekannter Talente ging, spielte der Skandal eine historische Rolle. 

Im Skandal reagiert die Gesellschaft auf Organisationen oder Personen, die entweder der allgemeinen Entwicklung vorauseilen oder hinter ihr zurückbleiben. Gesetze, Organisationsstrukturen oder Machtverhältnisse, politische Mehrheiten und Meinungsführerschaften können damit in Frage gestellt werden und einem Prozess der Anpassung unterzogen werden. Skandale können Reformen und Revolten auslösen, die Teilhabe neuer Gruppen an Macht und Repräsentation wird auf diese Weise initiiert.

Insofern ist der permanente Skandal, der unentwegte Tabubruch, einerseits Bedingung, andererseits integraler Bestandteil der modernen Kunst gewesen. Dies zeigte sich bei Courbet, Manet, Dalí und vielen anderen. Ernst Ludwig Kirchners Leben und Werk lässt sich durchaus als skandalwürdig bezeichnen, wobei zu differenzieren ist, wer zu welcher Zeit etwas als Skandal empfand. In der Auflistung seiner skandalösen Eigenschaften zeigt sich die Rezeptionsgeschichte dieses Künstlers in Reinform: 

Ernst Ludwig Kirchner, der „Exhibitionist“

FKK im Kaiserreich: Nackte Künstler und nackte Modelle am See rufen die Polizei auf den Plan –  und die Brückekünstler müssen sich gegenüber einem gestrengen Pickelhauben-Wachtmeister verantworten. Ein seinerzeit in der Künstlervita gern zitierter Vorgang, der heute kaum noch Aufsehen erregen würde, damals aber das Prädikat eines „Sittenstrolches“ einbringt; und nachträglich als „Revolte gegen die wilhelminische Prüderie“ verklärt werden konnte. Kritisch sieht man zudem heute, dass Kirchner und Kollegen minderjährige Modelle im Atelier posieren ließen, was damals unter Künstlern noch völlig normal war.

Der „Hurenmaler“

Kirchners Berliner Strassenbilder gelten heute als Ikonen des Expressionismus. Als Augenzeuge des Nobel-Strassenstrichs an der Friedrichstrasse und am Potsdamer Platz ist er in die Geschichte eingegangen. Auch Table-Dance-Institute sowie Bordelle gehören zu den Orten, wo er sich Inspirationen holt. Für Kaiser Wilhelm war das buchstäbliche „Rinnsteinkunst“: Unanständig und dreckig. Heute pflegt man Kirchners Bordsteinschwalben als „wertvolles kulturelles Erbe“, während zugleich die Saubermänner und Sauberfrauen in der Politik versuchen, die Prostitution in die Illegalität zu drängen. Gemälde wie „Der Potsdamer Platz“ von 1914 wurden jedenfalls zum kulturhistorischen Berlin-Label par excellence.

Kirchners Potsdamerplatz: Ein Denkmal für die Berliner Huren.
Kirchners Potsdamerplatz: Ein Denkmal für die Berliner Huren.

„Der Absinthtrinker“

Rotlicht und Rausch in der Großstadt, Künstlerleben am psychischen Limit – für die bürgerliche Klasse des Kaiserreichs, aus der Kirchner und Kollegen entstammten, war deren Dresdner und Berliner Bohemeleben ein Skandal. Heute sieht man das gelassener – im Gegenteil, der bis heute virulente Künstlermythos verlangt geradezu nach Kreativen, die (zumindest eine zeitlang) über die Stränge schlagen. Künstler dürfen ruhig bedröhnt sein – solange man noch etwas wie Genie in ihre Werke hineininterpretieren kann. Ernst Ludwig Kirchner zeigte: Legenden und Skandale sind da nur von Vorteil.

Ernst Ludwig Kirchner porträtierte sich selbst als Absinthtrinker.
Selbstporträt als Absinthtrinker , 1914, heute im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg

„Der Drückeberger“ 

Hungern und Medikamentenmissbrauch, um der Front zu entgehen: Während der Grundausbildung im Ersten Weltkrieg bekommt es Ernst Ludwig Kirchner mit der Angst zu tun. Zudem war er kein guter Reiter und körperlich nicht sehr stark. Zurecht befürchtet er, in den Materialschlachten als Kanonenfutter zu enden und ruiniert seine Gesundheit lieber selbst, bis er dienstuntauglich wird. Vermittelt durch den Schweizer Arzt Hans Fehr folgt eine Odyssee durch diverse Sanatorien.

Mit starkem Veronal- und Morphiumkonsum beruhigt Kirchner seine Todesangst vor erneuter Einberufung und bleibt gleichzeitig dauerhaft dienstunfähig. In Kriegs- und Nachkriegszeit empfand man Drückebergerei und mutwillige Selbstbeschädigung als skandalöse Erscheinung, heute gilt sie weithin als weise Entscheidung (zumal der Krieg ja doch verloren ging, und es ein paar Künstler-Hänflinge auch nicht mehr hätten richten können).

Ernst Ludwig Kirchner, „Der Aussteiger-Freak“

Aus Kaserne und Sanatorium in die Alpen: Als städtischer Ex-Bohemien lebte er seit 1923 mit Frau Erna im abgelegenen Ortsteil „Auf dem Wildboden“ in der Nähe von Davos unter Bauern, die ihn mit einer Mischung aus Mitleid, Neugier und Unverständnis betrachten. Sie fühlen sich geschmeichelt, weil er sie malt und fotografiert, seine Lebensart und Geisteswelt bleibt ihnen jedoch unverständlich, die sprachlichen und kulturellen Barrieren sind zu hoch. Gelegentlich klagt Ernst Ludwig Kirchner über seine gesellschaftliche Isolation und die aufflackernde Deutschenfeindlichkeit der Schweizer.

Gleichzeitig lobt die deutsche Presse, der „kränkelnde“ und „überreizte“ Stadtmensch Kirchner sei nun durch die neue einfache, bäuerliche Umgebung genesen. Ein deutscher Besucher berichtet in den 1920er Jahren: „Ich sehe den Maler vor seinem Hause stehend, breitbeinig wie ein Bauer, der hier gelebt hat von Anbeginn.“ Berliner Journalisten schwärmen, Kirchner sei in Davos „von der klaren, reinen Gebirgswelt geläutert“ worden und preisen dies als „Wunder der Auferstehung in den Alpen“. Der Blut-und-Boden-Zeitgeist ist hier schon zu spüren, nachdem die Stadt „verdorben“, das Landleben aber „gesund“ sei. 

Ernst Ludwig Kirchner als Dachkammer-Bohemien um 1914 in Berlin.
Ernst Ludwig Kirchner als Dachkammer-Bohemien um 1914 in Berlin.

„Der Junkie“

Kirchners Abhängigkeit von Morphium-Präparaten flackert nach einigen Jahren in Davos wieder auf. Sein „Dealer“ ist der Davoser Arzt Frédéric Bauer, der sich bei dieser günstigen Gelegenheit eine stattliche Kirchnersammlung aufbaut: Rezepte für das Opiat-Analgetikum „Eukodal“ im Tausch gegen Kunst. Eigentlich schon skandalös genug, oder?

Bis zum Lebensende muss Kirchner die Dosis immer weiter steigern. Den enormen Popularitätsschub, den Kirchner durch die große Retrospektive in der Westberliner Nationalgalerie (inklusive wohlmeinender Boulevard-Schlagzeilen wie „Frauen, Wahn und Todesehnsucht“) 1979 erfuhr, muss man vor dem Hintergrund des Topos „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sehen: Ernst Ludwig Kirchner wird Ende der 1970er Jahre als innerlich zerissene, einsame, zudem drogensüchtige Künstlerpersönlichkeit gesehen.

Ein Mensch, der offenbar ganz ähnliche existenzielle Probleme hatte wie „die Jugend von heute“.  Den Soundtrack dazu lieferte seinerzeit David Bowie, er schrieb mit „Heroes“ die inoffizielle Nationalhymne Westberlins. Im Übrigen war Bowie begeisterter Besucher  des Brückemuseums und versuchte sich selbst als expressionistischer Maler – hier schließt sich ein Kreis.

Ernst Ludwig Kirchner: Kalter Entzug auf der Alp 1923. Foto: Christian Saehrendt, Davos 2001.
Ernst Ludwig Kirchner: kalter Entzug auf der Stafel Alp bei Davos, 1923.

Ernst Ludwig Kirchner, „das Ekel“

Er schimpft über alles und jeden. Ein zeitgenössischer Beobachter fand: „Er war ein Liebender, aber auch ein guter Hasser.“ Eine kleine Kostprobe aus seinen Tagebüchern und Briefen: „Der beschissene Heckel“; „das dicke, vollgefressene Antlitz“ (über seinen Ex-Brücke-Kollegen Schmidt-Rottluff); „ein Schwindler und absoluter Eklektiker (über den Ex-Brückekollegen Pechstein); „dümmer und brutaler als Pechstein“ (über den Schweizer Künstler Hermann Scherer); „geistig zu schwach“ (über seine Frau Erna Schilling); „ein schwächlicher Hypochonder“ (über den norwegischen Künstler Edvard Munch); „ein verdammter Jude“ (über den Publizisten Paul Westheim). Das Schimpfen über Rivalen mag man noch als Ausdruck impulsiven Künstlertums hinnehmen, allein Kirchners judenfeindliche Äußerungen hinterlassen auch beim wohlmeinenden Leser einen unguten Nachgeschmack. 

Der nationale „Gernegroß“

Kirchner stilisiert sich in Briefen und Tagebüchern gern als Nachfolger Dürers und als großer Erneuerer der deutschen Kunst. Beim Museumsbesuch in Frankfurt berauscht er sich an den eigenen Arbeiten: „Ich staune über die Kraft meiner Bilder im Städel. Kolossal deutsch wie van Eyck, nur modern.“ Über diesen Künstlernationalismus mag man heute schmunzelnd hinwegsehen. In der Nazizeit nutzt ihm alle Ambivalenz, alle nationalistische Mimikri nichts. Er wird trotzdem als „entartet“ stigmatisiert und ärgert sich entsprechend. Die Nazis mobilisierten dazu die weit verbreitete Abneigung der breiten Masse gegen moderne Kunst, Kirchner gilt nun als expressiver Wirrkopf, der für den chaotischen Zeitgeist der Weimarer Republik stehe. Bis in die Nachkriegszeit herrscht diese Sicht auf Kirchner vor.

„Der Schummler“

Er datiert seine Bilder vor, um Einflüsse anderer Künstler auf sein Werk zu vertuschen. Er setzt alles daran, bestimmte Bilder vor Matisse oder Munch gemalt zu haben und geht gegen Kunstwissenschaftler vor, die Gegenteiliges behaupten. Der in relativer Abgeschiedenheit in Graubünden residierende Künstler, hypersensibel und reizbar, registriert penibel alle Kritiken und Kunstmarktbewegungen, die seine Werke betreffen.

Er geht so weit, die Rezeption seines Werkes selbst steuern zu wollen, u. a. mit Hilfe eines fiktiven Kunstkritikers  namens „Louis de Marsalle“, dessen Kirchner-Lobhudeleien aus der Feder des Meisters selbst stammen. Berüchtigt sind auch seine eigenhändigen Restaurierungen älterer Bilder: Er übermalt sie, um bestimmte Entwicklungslinien, die zum Spätwerk führen, zu simulieren, oder um stilistische Brüche zu überdecken. Darf man als Künstler sein eigenes Œuvre und die Rezeptionsgeschichte manipulieren? Jahrzehntelang empfanden Kunstfreunde dies als unfein. Doch nach heutigem Kunstverständnis ist ja sogar das Kunst. 

Der Selbstmörder

Er lässt seine berufslose Frau, die er immer hingehalten und letztlich nie geheiratet hat, im Schweizerischen Exil allein und entzieht sich jeder Verantwortung. Obwohl man Selbstmord in unserer säkularen Gesellschaft weithin nicht mehr als Sünde ansieht, gibt es auf der anderen Seite keinen Grund, Kirchners Freitod als Reaktion auf den Faschismus oder als existenzialistischen „Rock’n Roll Suicide“ zu heroisieren. Er hatte ein Bündel verschiedener Motive (u. a. der von schweren Depressionen begleitete Versuch, von „Eukodal“ wegzukommen). Wenig heldenhaft ist auch sein Versuch, Erna Schilling zum gemeinsamen Selbstmord zu überreden. Sie aber wollte leben, er ging allein.

Ernst Ludwig Kirchner: Sein letztes Selbstporträt 1937/38
Ernst Ludwig Kirchner: Sein letztes Selbstporträt 1937/38. Bündner Kunstmuseum Chur.

Zu Lebzeiten umstritten, gefeiert und verfemt, gehören Kirchner und andere Expressionisten heute zu den allseits akzeptierten und beliebten Künstler der Klassischen Moderne. Kirchner, Nolde, Munch oder die Fauves stehen für einen gemäßigten Modernismus, der auch für Kreise akzeptabel ist, die zeitgenössischer Kunst ablehnend gegenüberstehen. Kirchners Leben und Werk werden heute im Kirchner-Museum Davos, im Berliner Brücke-Museum und im Kirchner-Archiv in Wichtrach bei Bern erforscht und gewürdigt.

Ernst Ludwig Kirchner im Kanzleramt Berlin. Foto: Christian Saehrendt, Berlin 2005.
Ernst Ludwig Kirchner heute ganz staatsragend, ohne Legenden und Skandale: Angela Merkel tagte jahrzehntelang mit ihren Kabinetten unter seinem Monumentalgemälde Sonntag der Bergbauern
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