Beuys boxt – der legendäre Faustkampf, der vor einem halben Jahrhundert auf der documenta stattfand, gehört zu seinen bekanntesten Performances. Was steckte dahinter?
Zeitlebens balancierte Joseph Beuys auf dem Grat zwischen Performancekunst und politischer Aktion. Mal engagierte er sich für Studenten, mal für Volksabtimmungen, mal für den Frieden oder für die – damals neue – Partei DIE GRÜNEN.
So kann er einerseits als Opportunist interpretiert werden, der politische Themen und Ereignisse für seine Kunstmarktkarriere nutzte, andererseits kann man ihn als strategisch denkenden Homo politicus betrachten, der die Kunst als Vehikel zur Verbreitung einer Weltanschauung einsetzte.
Dieser Doppelcharakter kennzeichnet bis heute die Akteure eines mittlerweile etablierten Genres „Politische Kunst“, welche routiniert nach den Regeln der Ökonomie der Aufmerksamkeit operieren. Beuys spiegelte Ende der 1960er Jahre die gesellschaftliche Unruhe in seinen Performances. So reagierte er mit der Gründung einer „Deutschen Studentenpartei“ auf den Tod von Benno Ohnesorg.
Das nächste politische Projekt war eine „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“, die er mit seinen Mitarbeitern Johannes Stüttgen und Karl Fastabend ins Leben rief. Im Programm aus dem Jahr 1971 wurde die Entmachtung der Bürger durch die Parteien beklagt:
„Aus der politischen Willensbildung des Volkes ist fast schon ein Parteienmonopol geworden. Da Parteien ihrem ganzen Wesen nach immer in erster Linie bestimmte, egoistische Interessen vertreten, (logischerweise die Interessen derjenigen, von denen sie bezahlt werden) muß zwangsläufig die Volksmehrheit der Schaffenden den Interessen einer kapitalstarken Minderheit ständig unterliegen.“
Aus dem Programm der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung 1971
Beuys bezieht sich in seiner Forderung nach echter Demokratie auf das Grundgesetz, welches auch Volksabstimmungen vorsieht. In der politischen Praxis der Bundesrepublik wurde diese Möglichkeit aber den Bürgern verwehrt.
Unter der Leitung des Schweizers Harald Szeemann bot die documenta Beuys’ „Organisation für die direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ im Jahr 1972 eine große Bühne.
„Harald Szeemanns Stellung zur direkten Demokratie ist mir unbekannt. Aber seine Stellung zu Joseph Beuys war bedingungslos; er hätte jeden Beitrag von Beuys begrüßt.“
Johannes Stüttgen am 26.4.2021
Während der gesamten Dauer der Ausstellung erhielt er einen eigenen Raum im Museum Fridericianum, in dem er sich täglich dem Gespräch mit Besuchern stellte und für sein Anliegen werben konnte. Die damals starke radikale Linke bekämpfte ihn umgehend als Pseudorevolutionär, der im Dienst des herrschenden Systems agiere. Einträge in die Besucherbücher der documenta zeigen dies, dort ist u. a. zu lesen: „Kunst ist systemstabilisierend“, während an anderer Stelle steht: „Gebraucht endlich eure Macht, die ihr habt durch das Recht auf Selbstbestimmung des Volkes. Lasst euch nicht verführen von Beuys, Stüttgen & Co!“
Beuys wurde durch seine Dauerpräsenz zur prägenden Figur der fünften documenta und krönte seinen Auftritt durch einen mittlerweile ikonischen Boxkampf, den er als Abschlussveranstaltung der Schau im Fridericianum bestritt. Dieser Kampf wird in der Sekundärliteratur immer wieder erwähnt und teilweise geradezu glorifiziert, es lohnt sich aber, ihn genauer und kritischer unter die Lupe zu nehmen.
Beuys boxt gegen den jüngsten documenta-Künstler aller Zeiten
Gegner im Ring war der bislang jüngste documenta-Teilnehmer aller Zeiten, der 19jährige Abraham David Christian. (von der Hessischen Allgemeinen damals missgünstig als hauptberuflicher „Selbstdarsteller“ betitelt). 50 Jahre nach dem Kampf ist Christian der einzige Überlebende aus dem Ring (der Beuysschüler und Ringrichter Anatol Herzfeld verstarb vor einigen Jahren), der authentisch Auskunft geben kann:
„Wir hatten kontroverse politische Auffassungen. Beuys war noch sehr gefangen in Gedanken der zwanziger Jahre (u. a. Steiner) und ich hatte mich mit dem Maoismus und mit der chinesischen Philosophie beschäftigt.“
Abraham David Christian am 11.3.2021
Er habe sich damals fast täglich in Beuys’ documenta-Büro eingefunden. Im Verlauf einer hitzigen Diskussion will er Beuys zu einem Boxkampf herausgefordert haben – doch der Verlauf der folgenden Show namens „Boxkampf für die direkte Demokratie“ lässt Zweifel an dieser Lesart aufkommen.
Geboxt wurde am letzten Tag der documenta in einem improvisierten Ring im Museum Fridericianum. Es ging über drei Runden zu je zwei Minuten. Während sich Abraham David Christian mit Kopf- und Zahnschutz ausstaffierte, agierte Beuys barhäuptig. Ursprünglich trugen beide Kopfschutz, den Beuys aber trickreich kurz vor dem Kampf abnahm – mit dem Effekt, auf den Fotos mutiger und männlicher auszusehen.
Zudem war der Professor in einer höheren Gewichtsklasse anzusiedeln und trat wesentlich offensiver als sein angeblicher Herausforderer auf. Hans Albrecht Lusznat fotografierte damals den Kampf. Er erinnert sich:
„Christian hatte, obwohl so viel jünger als Beuys, vielleicht Angst, Dresche einzustecken. Beuys trat sehr ungewöhnlich ohne Hut an, und ich glaube, daß er trotz aller Gaudi einen Ehrgeiz entwickelte, diesen Kampf zu gewinnen. Es hat sich sehr konzentriert. Der Meister boxt mit einem Schüler, der aber hat keine Ambitionen zu gewinnen.“
Hans Albrecht Lusznat, April 2021
Es wirkte so, als ob Christian (mehr oder weniger freiwillig) als Aufbaugegner in den Ring gestellt worden war. Beuys konnte in der zweiten und dritten Runde dann auch ungehindert mehrere Geraden im Gesicht des Gegners platzieren. Ringrichter Herzfeld erklärte seinen Professor wegen der „direkten Treffer für die direkte Demokratie“ zum Punktsieger. Kopfschutz und Handschuhe wurden anschließend für 2.000 DM zugunsten der „Organisation“ versteigert.
„Mir war klar, dass die direkte Demokratie gewinnen sollte. Vielleicht hat es Beuys auch so direkt formuliert. Mir war ziemlich egal wer gewinnt“.
Abraham David Christian am 16.3.2021
Die Kontrahenten, die in Jeans antraten, verfügten über keine erkennbare Boxtechnik. Der Schaukampf war also weder ein Leckerbissen für Boxästheten noch bot er Spannung – der Sieger stand für alle sichtbar schon zu Beginn der zweiten Runde fest. Während ein sportbegeistertes Publikum Beuys gnadenlos ausgebuht hätte, war das Kunst-Publikum sichtlich amüsiert.
Aufsehen erregte hier vor allem die Tatsache, wer boxte: Ein Kunstprofessor mittleren Alters steigt in den Ring und engagiert sich in einer Sportart, die (damals) immer noch mit Proletariat und Halbwelt in Verbindung gebracht wurde. In den 1920er Jahren hatten Künstler und Intellektuelle wie George Grosz oder Ernest Hemingway den Boxsport entdeckt. Sie genossen das proletarische Spektakel der Kämpfe und verherrlichten die Virilität und den Vitalismus der Boxer.
Vor allem faszinierte sie die existenzielle Alles-Oder-Nichts-Situation im Ring, die Kämpfer erschienen ihnen wie die letzten aufrechten Helden in einer als ebenso komplex wie feige und verlogenen empfundenen Zivilisation. So knüpfte Beuys mit seinem Box-Abenteuer bei der documenta ebenso geschickt an jenen Topos des Kämpfers an, zugleich aber auch mit einem Augenzwinkern, als er der Kasseler Lokalzeitung erklärte, der Kampf sei „natürlich ein Jux. Direkte Demokratie ist lustig“.
Der Boxkampf suggerierte anfänglich Spannung und Spontanität. Er war aber viel stärker im Sinne von Beuys vorbestimmt und kann als Paradebeispiel für seine strategische Produktion von Selbstbildnissen gelten, die weit über den Tod hinaus Verbreitung finden sollten. Beuys nutzte die Boxerfotografien in den nächsten Jahren auch für seine politische Arbeit.
So trat er 1976 auf der Liste der schillernden Kleinpartei „Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher“ bei der Bundestagswahl an. Im documenta-Archiv finden sich Flugblätter, die mit dem boxenden Künstler illustriert wurden. Diesem war eine Sprechblase in den Mund gelegt: „Würde meine Stimme für euch im Parlament erheben.“ Auch eine Zeitschrift griff die Vorlage auf und titelte „Beuys – der Boxer für mehr Bürgerfreiheit.“ Am Ende gaben ihm knapp 600 Düsseldorfer ihre Stimme.
Viele damalige Forderungen der Beuys’schen Initiative „Organisation für die direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ sind nach wie vor legitim (und erst Recht in Zeiten suspendierter Grundrechte und zunehmend abgehobener Technokratenherrschaft), etwa „Die Willensbildung in der Politik von unten nach oben“, „Das Volk als sein eigener Verfassungsgeber“, „Volksabstimmungen in wichtigen Angelegenheiten und Grundrechtsfragen“ oder die „Abwahlmöglichkeit von unwürdigen oder unfähigen Volksvertretern und Amtspersonen.“
Zugleich würde eine derartige politische Haltung heute als „Populismus“ diffamiert, vielleicht sogar zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz führen. Lange Zeit war es Beuys gelungen, die Rezeption seines Werks mithilfe ihm zugeneigter „Jünger“, Mitarbeiter und Medienakteure zu prägen – und dies weit über seinen Tod hinaus. Im derzeitigen Klima einer moralisierenden Geschichtsrezeption werden aber diejenigen Stimmen immer lauter, die Beuys im Kontext belasteter Ideologien und nationalsozialistisch geprägter Mitstreiter sehen.
Ohne Zweifel wurde Beuys, wie andere Künstler seiner Generation, von Gedanken und Schriften beeinflusst, die während des “Dritten Reiches” entstanden und weit verbreitet waren. Viele dieser Inspirationsquellen und Begrifflichkeiten gelten aus heutiger Sicht als problematisch. Man würde sie nicht unkommentiert verwenden. Doch davon abgesehen war Beuys kein Reaktionär oder Nazi, der von einem “Vierten Reich” träumte – im Gegenteil. Sein Ziel war eine Ausweitung von Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe.
Trotzdem scheint das Zerrbild eines „braunen Beuys“, das schon vor einigen Jahren in der emotionalen, fast schon gehässigen Biographie Hans Peter Riegels aufschien, populärer zu werden. Vielleicht waren die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag die letzte Gelegenheit, das progressive Potential Beuysscher Ideen und Performances aufzuzeigen.
„Braucht die Demokratie nicht vielleicht gerade solche »Helden« wie Beuys, die die Menschen mit ihren radikalen Sichtweisen provozieren und herausfordern“, fragt sich Anne-Marie Franz, deren Dissertation an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sich dem Beuysschen Boxkampf widmet. Die Kunstwissenschaftlerin resümiert:
„So wichtig Museen und Kunst im öffentlichen Raum auch sein mögen, gesellschaftliche Umbrüche und Revolutionen finden auf der Straße statt und dahin hat sich Beuys Zeit seines Lebens begeben.“
Anne-Marie Franz am 11.3.2021