Ruangrupa, das Kuratorenteam der anstehenden documenta fifteen (2022), war ratlos, die documenta-Geschäftsführung dementiert – die Kunstwelt wurde zeitweilig mit gefälschten Einladungen zur documenta fifteen irritiert. Ein fieser Scherz? Oder könnte es sich dabei selbst um ein Kunstwerk handeln?
Wir danken allen Künstlern für Ihr Interesse an der documenta. Dennoch weisen wir darauf hin, dass es für die documenta kein Bewerbungsverfahren gibt“ – so steht es warnend auf der offiziellen Website der Weltausstellung.
Ein Blick ins documenta-Archiv zeigt, dass die Warnung angebracht ist, denn dort lagern bereits Tausende von unerwünschten Eigenbewerbungen aus den vergangenen Jahrzehnten. Während sich 1972 noch gut 250 (276) Künstler unaufgefordert und erfolglos um eine documenta-Teilnahme bewarben, waren es zur documenta 7 schon knapp 900 (869), zur documenta 8 fast 1500 (1445). Seitdem liegt die Zahl der Initiativbewerbungen im vierstelligen Bereich, wobei der Postweg die Regel darstellt.
Bis heute trudeln weiterhin ungefragt Portfolios, Projektbeschreibungen und Werke in der nordhessischen Metropole ein. Und Google schlägt beim Suchwort „documenta 15“ rasch die Ergänzung „Bewerbung“ vor. Interessierten bleibt aber letztlich nichts anderes übrig, als demütig zu warten, bis der Ruf aus Kassel erschallt.
Ruangrupa ruft: Ab nach Kassel!
Im Herbst 2020 erhielten einige Glückliche diese Nachricht, unterzeichnet von Mitgliedern des indonesischen Kuratorenteams Ruangrupa. Laut documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann waren die Benachrichtigungen auf den ersten Blick „sehr gut gemacht“.
Real existierende documenta-Kuratoren seien mit Phantasienamen vermischt worden, auch auf die Vitae der angeschriebenen Künstler und einzelne ihrer Projekte werde z. T. geschickt eingegangen. Mindestens 40 Einladungen gingen an internationale Künstler, Kuratoren und Museumsdirektoren auf der ganzen Welt, teilte documenta-Sprecherin Johanna Köhler mit.
Schormann sagte der Süddeutschen Zeitung, es sei zutiefst tragisch, so mit den fälschlich zur Teilnahme aufgeforderten Künstlern und Kuratoren umzugehen: „Wir haben wirklich herzzerreißende Briefe erhalten, in denen die Angeschriebenen ihrer Freude Ausdruck verleihen.“ Den Traumberuf Künstler wollen eben noch immer viele gerne mit einer documenta-Teilnahme versüßen.
Viele Betroffene hätten sich bei der documenta gemeldet, um sich zu vergewissern, dass es sich um eine reale Einladung handelt. Bei Ihnen sei die Enttäuschung dann groß gewesen. Durch die E-Mails entstehe vor allem ein emotionaler Schaden, sagte Köhler.
Gefälschte Einladungen zur documenta fifteen: ein fieser Scherz?
Wer oder was steckte hinter der Aktion? Sinnfreie Spaßguerilla? Ein enttäuschter Künstler? Ein besessener Troll? Oder handelt es sich um eine politisch-künstlerische Kampagne, vielleicht von einschlägigen PR-Profis wie der „Frankfurter Hauptschule“ oder dem „Zentrum für politische Schönheit“? Der oder die Täter haben offenbar gezielt recherchiert, vor allem in zugänglichen Quellen wie z. B. kuratorischen Statements von Ruangrupa.
In ihren Mails benutzten sie den typischen Kunst-Jargon und gebräuchliche Diskursvokabeln, wie ein deutsches Kunstmarktmagazin feststellte, dessen Autoren ebenfalls zur documenta fifteen „eingeladen“ wurden. Doch auf den zweiten Blick erkenne man, so die langjährige documenta-Kuratorin Andrea Linnenkohl in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen, dass die Täter doch nicht so gut informiert gewesen seien: „Das Konzept und die Lebenshaltung von Ruangrupa haben sie nicht durchdrungen“.
Um auf eine konkrete Agenda der Täter zu schließen, müsste man ein Muster bei den Betroffenen feststellen, was aufgrund der Dunkelziffer schwer möglich ist. Es wäre zu fragen: Gab es einen regionalen Schwerpunkt bei den Angeschriebenen, eine bestimmte Stilrichtung oder eine Alterskohorte? So könnten bestimmte Künstler und Künstlerinnen gezielt eingeladen worden sein, um aus deren anschließender Brüskierung durch eine ablehnende documenta-Leitung Kapital zu schlagen.
Eine der üblichen Online-Betrugsmaschen scheint hingegen nicht in Frage zu kommen: So wurde den Angeschriebenen keine documenta-Teilnahmegebühr o. ä. in Rechnung gestellt. Mit diesem hinlänglich bekannten Trick wird immer wieder versucht, Künstlern Gebühren für angeblich geplante Gruppenausstellungen oder den Eintrag in fiktive Künstlerverzeichnisse abzuziehen.
Auch spricht der relative Aufwand der Aktion, für die immerhin einige Künstlerlebensläufe gesichtet wurden, gegen die These eines Einzeltäter-Trolls. Bleibt letztlich eine künstlerische Aktion, eine Art Konzeptkunst als wahrscheinlichstes Szenario. Sollte sich um eine Kunstaktion halten, könnte diese am ehesten ins Genre „Institutionskritik“ fallen.
“Institutionskritik ist hochaktuell und aus den kuratorischen Debatten nicht mehr wegzudenken. Sie dient als Folie für kritische Akteure, um sich im Kunstfeld zu positionieren. Als künstlerische Praxis vielfach untersucht, blieb bisher jedoch ungeklärt: Wie reagieren Kunstinstitutionen und kuratorische Praktiken auf Institutionskritik?”
https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5193-5/institutionskritik-im-feld-der-kunst/?c=311000272
Falls die Fake-Einladungsaktion als Institutionskritik geplant worden wäre, zielte sie also auf eine als “elitär” und “autoritär” verstandene documenta-Praxis und somit auf die Macht der Kuratoren. In diesem Fall sei die Machtkritik aber „auf dem Rücken anderer Künstler“ ausgetragen worden und somit – laut Linnenkohl – „fies“, weil die düpierten Künstler dafür benutzt worden wären.