Seit über 130 Jahren wird darüber spekuliert, wer der Serienmörder „Jack the Ripper“ war. Und immer wieder flammt auch die Theorie auf, dass Walter Sickert dahintersteckt. Und manchmal wird eine Mordtheorie auch zum Gegenstand von Kunst. Bestsellerautorin Patricia Cornwell, weltweit bekannt für ihre unterhaltsamen Krimis, sorgte 2002 für großes Aufsehen, weil sie Möbel und Kunstwerke des aus Deutschland stammenden Malers Walter Sickert (1860–1942) im Wert von über zwei Millionen Pfund aufkaufte und auseinander nahm, um weitere Beweise für eine ungeheure Theorie zu bekommen.

Auch wenn Walter Sickert nicht zu den Namen gehört, die jeder kennt, gehört er doch zu der Riege berühmter britischer Künstler mit historischem Wert. Kein Wunder, dass sich Cornwell mit ihrer zerstörerischen Recherche keine Freunde machte und sich den Vorwurf des Vandalismus gefallen lassen musste. War es das wert?

Walter Sickert studierte nach einem Ausflug in die darstellenden Künste Malerei unter anderem als Assistent des amerikanischen Malers James Abbott McNeill Whistler (1834-1903) und Schüler von Edgar Degas (1834-1917) in Paris. Der Einfluss des Franzosen war für Walters künstlerische Arbeit wesentlich, die Vorliebe für die Darstellung von Randgestalten der Gesellschaft entwickelte sich aber bald in eine eigene Richtung.

Edgar Degas und Walter Sickert. War letzterer Jack the Ripper?
Edgar Degas und Walter Sickert – sie verband eine langjährige Freundschaft

Dicht komponierte Farbschichten, in denen sich die Figuren vor den Mustern des Interieur fast auflösen, machen seine Einordnung schwierig, meist wird er mit anderen spätimpressionistischen Künstlern in eine Schublade gesteckt. Sein gewaltiges Œuvre mit über 2.000 Gemälden und unzähligen Grafiken hat aber weit mehr zu bieten.

Sein Einfluss als Künstler der Übergangszeit zwischen Impressionismus und Moderne ist beträchtlich. In Großbritannien wird ihm ein Ehrenplatz zwischen solch Malerei-Giganten wie William Turner (1775-1851) und Francis Bacon (1909-1992) eingeräumt.

Walter Sickert
Walter Sickert 1884. Ist sein Aussehen mit Schuld daran, dass er die Fantasie von Cornwell beflügelt? (Quelle: Wikipedia)

Der exzentrische Künstler, der mit seiner Familie bereits im Alter von acht Jahren von München nach England auswanderte und sich gern als Dandy inszenierte, soll Cornwells Überzeugung nach identisch sein mit jenem bis heute berühmt-berüchtigten psychopathischen Serienkiller, der im Herbst 1888 London in Angst und Schrecken versetzte, weil er fünf Frauen brutal ermordete. Diese Morde wurden später als die „Kanonischen Fünf“ bezeichnet, weil sie ziemlich sicher von ein und der selben Person begangen worden waren. Weitere sechs Morde in London zu der Zeit wurden zumindest in den Medien als das Werk von „Jack the Ripper“ angesehen.

Karikatur zur Jagd auf Jack the Ripper
Karikatur aus der Punch vom 22. September 1888. Der Hohn über die Unfähigkeit der Polizei vermischt sich mit rassistischen Darstellungen aus dem Armenquartieren Londons.

Fieberhafte Suche nach „Jack the Ripper“

Im Laufe der Ermittlungen wurden mindestens zwölf Männer der Taten verdächtigt, doch bei keinem verdichteten sich die Hinweise bis zur Anklageerhebung. In London gab dies in den Monaten und Jahren nach der Mordserie Anlass zu allerlei Theorien; wer etwas auf sich hielt, präsentierte seine eigenen Spekulationen über den Täter der Whitechapel-Morde. Die „Ripperology“ schoss umso mehr ins Kraut als sich abzeichnete, dass die Polizeiarbeit ergebnislos bleiben würde. Selbst ein Mitglied des Königshauses, Prinz Albert Victor, geriet aufgrund seiner regelmäßigen Puffvisiten in den Verdacht; ebenso Lewis Carroll, der Autor von Alice im Wunderland.

Walter Sickerts Behauptung gegenüber Freunden, dass er wüsste, wer »Jack the Ripper« wirklich sei, passte also gut ins Bild der damals obligatorischen Beschäftigung mit dem Fall. Über 114 Jahre später war es Cornwell, die sich mit ihrer Theorie in Szene setzte – mehr noch, sie behauptete, sich zu hundert Prozent sicher zu sein, den Fall gelöst zu haben.

Einer Unbekannten hätte man vermutlich keine weitere Beachtung geschenkt, doch hier verkündete eine angesehene Autorin voller Überzeugung eine kriminalistische Sensation. Möglicherweise dürstete es die ehemalige Polizeireporterin nach zahlreichen fiktiven Geschichten einfach mal wieder nach einem echten Fall, und was könnte sich besser für einen Thriller eignen, als den berühmtesten ungelösten Fall der Kriminalgeschichte mit einem prominenten Täter zu verbinden?

Walter Sickert "The Red Shoe", ca. 1904
Walter Sickerts erstes Gemälde der Serie „Camden Town Nudes“: The Red Shoe, ca. 1904. Ein suggestives Bild: Die unbequem wirkende Lage des Modells eröffnet Interpretationen zwischen einer volltrunkenen Nackten und dem Opfer eines Sexualdelikts.
Rund 20 Jahre nach den Morden in London spukt der Grusel des Rippers auch durch Walter Sickerts Bildwelt: Jack the Rippers Bedroom, 1907

Eine Theorie mit langem Bart

Die Ripper-Sickert-Theorie war indes nicht neu. Joseph Gorman hatte die Theorie in den frühen 1970er Jahren in Umlauf gebracht und behauptete, selbst »Joseph Sickert«, ein unehelicher Sohn des Künstlers, zu sein (nachdem eine frühere Variante darauf lautete, dass seine Mutter die uneheliche Tochter Walter Sickerts gewesen sei).

Seine Version zu den Morden, die ihm Sickert angeblich kurz vor seinem Tod gestanden habe, widerrief Gorman einige Jahre später als Scherz. Sie fand zwischenzeitig allerdings ihre Ausbreitung in Jack the Ripper: The Final Solution, einem millionenfach verkauften Buch von Stephen Knight, das die Morde im Licht einer angeblichen Verschwörung des britischen Königshauses schildert und heute als reines Fantasieprodukt entlarvt ist.

Es war Grundlage für diverse Romane und deren Verfilmungen, unter anderem From Hell mit Frauenschwarm Johnny Depp im Jahr 2001. Brachte dieser Mystery Thriller Cornwell womöglich auf die Idee zu ihrem Buch?

Der Kinotrailer zu “From Hell” mit Johnny Depp und Heather Graham

Dann hätte sich ein Reigen der Phantasmagorien geschlossen. Die Schriftstellerin ging in ihren Behauptungen aber noch einen Schritt weiter und machte den Künstler gleich noch zum Mörder in dem bisher unaufgeklärten Fall einer getöteten Teilzeitprostituierten, der 1907 als »Camden Town Murder« in die Kriminalgeschichte einging.

Bestellerautorin Patricia Cornwell 2011 (Quelle: Wikipedia)

Sickerts Angewohnheit, einigen seinen Bildern mysteriöse, publicityträchtige Titel wie Jack the Rippers Schlafzimmer zu geben und eine Gemäldeserie mehrdeutiger Aktdarstellungen in ärmlichen Interieurs wurden in Cornwells Theorie zu Indizien.

Seltsame Geschichten hatte Walter Sickert zu Lebzeiten auch selbst in Umlauf gebracht. Nach einem seiner regelmäßigen Konzertbesuche, bei denen er Skizzen anfertigte, soll ihm einmal eine Gruppe junger Mädchen begegnet sein, die vor ihm »Jack the Ripper! Jack the Ripper!« schreiend flohen. Walters Beschäftigung mit den Mordtaten und sein Sinn für die dunklen Seiten der Existenz ließen ihn selbst in Verdacht geraten.

Walter Sickert mit Anfang 50
Walter Sickert mit Anfang 50. Foto von George Charles Beresford

Sickerts Angewohnheit, einigen seinen Bildern mysteriöse, publicityträchtige Titel wie Jack the Rippers Schlafzimmer zu geben und eine Gemäldeserie mehrdeutiger Aktdarstellungen in ärmlichen Interieurs wurden in Cornwells Theorie zu Indizien. Seltsame Geschichten hatte Walter Sickert zu Lebzeiten auch selbst in Umlauf gebracht.

Nach einem seiner regelmäßigen Konzertbesuche, bei denen er Skizzen anfertigte, soll ihm einmal eine Gruppe junger Mädchen begegnet sein, die vor ihm »Jack the Ripper! Jack the Ripper!« schreiend flohen. Walters Beschäftigung mit den Mordtaten und sein Sinn für die dunklen Seiten der Existenz ließen ihn selbst in Verdacht geraten.

»Wenn eine Jury Geschworener das damals gesehen hätte, hätten sie gesagt: Hängt ihn!«

Patricia Cornwell

Etwas bizarr muten Cornwells Überlegungen hinsichtlich des Motivs an, die in Sickerts angeblicher Impotenz das Triebmoment für die Lustmorde verorten. Eine Operation in Kindesalter (bei der ihm eine Fistel entfernt wurde) habe seinen Penis schwer deformiert und ihn zum Ripper werden lassen. Aufwändige DNS-Analysen, die Cornwell von Forensikern durchführen ließ, brachten keinerlei Hinweise, zumal die erhaltenen Beweismittel des Falls dürftig sind.

So ist die Authentizität der Briefe des Rippers fraglich, und ein genetischer Fingerabdruck ließ sich auf den von Scotland Yard archivierten Briefen nicht finden. Ein seltenes Wasserzeichen auf einem der Briefe allerdings wurde für Cornwell zum schlagenden Beweis: In Sickerts Korrespondenz findet sich Briefpapier aus dem Schreibwarengeschäft seines Vaters. Es ist mit dem gleichen Wasserzeichen versehen. Cornwell ist überzeugt: »Wenn eine Jury Geschworener das damals gesehen hätte, hätten sie gesagt: Hängt ihn!«

Walter Sickert "Reclining Nude" von 1906
Reclining Nude (Thin Adeline), 1906
Walter Sickert "Camden Murder" ca. 1908
Walter Sickert, Camden Town Murder oder What Shall We Do For Rent? Ca. 1908
Walter Sickert "The Music Hall", 1889
Ein Bild aus dem zeitlichen Umfeld der Whitechapel-Morde: Walter Richard Sickert, The Music Hall, 1889

Eines lässt sich angesichts der bis heute anhaltenden Faszination für die Mordserie im London der späten 1880er Jahre sagen. Sie war und ist ein willkommener Anlass, immer neue, drastische Storys voller Gewalt, Sex und Wahnsinn zu erzählen, ob nun direkt auf den Ripper bezogen oder von ihm inspiriert.

Der damals von Außenseitern, Migranten und krasser Armut geprägte Osten Londons, in dem sich viele Frauen aus materieller Not mit Prostitution über Wasser hielten, scheint bis heute die Fantasie zu beflügeln. Anteil daran hat wohl auch der von einer Zeitung erfundene Name „Jack the Ripper“ – bis heute eine Marke, die gute Verkäufe verspricht. „Jack the Ripper“ hat also mithilfe der damals schon zur Höchstform auflaufenden Massenmedien einen Stammplatz im kulturellen Gedächtnis weit über Großbritannien hinaus erlangt. Deshalb könnte die in akademischen Kreisen gelegentlich geäußerte Hoffnung verfrüht sein, dass die Populärkultur heute – über 130 Jahre später – die Reife hat, stereotype Narrative von Prostitution, Armut und Schuld gänzlich zu überwinden.

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