Die meisten Leute stellen sich in ihrem Leben nicht ein einziges Mal folgende Frage: Was passiert eigentlich, wenn ich auf Kunst treffe? Wie unterscheidet sich das von der Begegnung mit x-beliebigen Gegenständen oder heiß begehrten Konsumartikeln in den Showrooms der Shoopingareale? Sie haben irgendwann gelernt, dass man sich halt ab und zu mal Kunst anschaut. Das läuft dann so ab: Gucken, latschen, gucken, latschen, shoppen. Heute kommen von Fall zu Fall noch Fotos bzw. Selfies vor berühmten Werken dazu. Aber ist das schon alles? Worauf kommt es bei der Kunstbetrachtung an? Und warum ist die „Rezeption“ von Kunst selbst ein kreativer Vorgang?

Immer wieder stellt sich für Kuratoren und Künstler die Frage: Muss die Kunst unbedingt ausgestellt werden? Und ist eine „Ausstellung“ nicht das lahmste und älteste Mittel, um mit der Kunst ans Publikum zu kommen?

Touristen, beobachtet bei der typischen Kunstrezeption im Louvre (Foto mit Dank an Alicia Steels auf unsplash)

Seit den 1960er Jahren grübeln Künstler, wie sie die überkommenen musealen „Rezeptionsmuster“ durchbrechen können. „Der Rang eines Künstlers erweist sich darin, ob und wie er bestehende Rezeptionskonventionen transformiert“, schreibt der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich und übertreibt dabei sicher ein bisschen. Aber die Herausforderung, neue Begegnungen zwischen Kunst und Betrachtenden zu entwickeln, besteht wie eh und je.

Jeder ist ein Kurator seiner Wahrnehmung
Der klassische Ausstellungsbesuch wird überbewertet. (Foto: kingkunst.de)

Mit der Aktivierung des Publikums bei Performances und Installationen, der „Partizipation“ bei Happenings und dem „eingebetteten“ Künstler bei sozialer Interventionskunst wurden neue Spielfelder für die Kunst entdeckt. Allerdings sind die Betrachter in diesen Fällen meist eher als Versuchskaninchen vorgesehen, statt als Partner, mit denen man Kunst im Sinn ihrer möglichst freien Rezeption erst vollendet. Wer hat sich in einer Ausstellung nicht schon mal wie auf einem Spielplatz für Erwachsene gefühlt, auf dem er von Kuratoren, Künstlern und fleißigen Dokumentationsteams beobachtet wird?

„Rezeption“ reloaded

Wie wäre es, wenn sich das Publikum nicht länger zum Spielball machen lässt, sondern eigene Methoden entwickelt, um sich mit Kunst auseinanderzusetzen? Unsere Erfahrungen mit der Low- und Off-Kultur könnten dabei eine gute Basis sein. Denn wir sind echte Experten darin, konsumorientierten „Rezeptionsimpulsen“ zu folgen – so wie wir z.B. kritische Fans eines Regisseurs oder eines Autors sein können. Diese Erfahrungen lassen sich als Ausgangspunkt einer möglichen Beziehung auch zu einem Kunstwerk begreifen.

Es geht es darum, unsere Gewohnheiten im Kulturkonsum für eine tiefere Auseinandersetzung mit Kunst fruchtbar zu machen, statt die Kunst im Schatten einer zwar theoretisch wunderbaren, aber zugleich auch wirklichkeitsfernen „Rezeption“ stehen zu lassen. Eine alltagstaugliche Umgangsform mit Kunst sollte sich also das konsumorientierte Aufnehmen und Erfahren kultureller Reize zu nutze machen, statt sie abzuwerten. Wie könnte das gelingen?

In den herkömmlichen Vorstellungen von Rezeption immer auch die Umgebung mit einbezogen, in der die Begegnung mit Kunst stattfindet. So verändert sich unser Verhältnis zum Kunstwerk, wenn es uns nicht im Chaos eines Ateliers begegnet sondern effektvoll im White Cube einer Galerie oder gar im Museum präsentiert wird.

Aber dabei bleibt außen vor, dass Rezeption nicht auf den Moment beschränkt ist, in dem wir das Werk unmittelbar und sinnlich erleben. Eine Idee wäre also, den zeitlichen Aspekt der Verarbeitung ästhetischer Erfahrungen genauer zu betrachten.

Das Kommen und Gehen in einer Ausstellung. Die Kunstwerke bleiben – im Idealfall auch in Erinnerung. (Foto mit Dank an Sergei Akulich auf unsplash)

Wir müssen nicht jedes Mal erneut in die Ausstellung, um uns mit einem bestimmten Kunstwerk noch einmal auseinander zu setzen – so wie wir auch einen Menschen nicht ständig aufsuchen müssen, um über ihn und unser Verhältnis zu ihm nachzudenken. Und wenn wir über einen Film nachdenken, müssen wir den auch nicht ständig wieder ansehen. Oft haben wir sogar die Story des Films längst vergessen, aber die Atmosphäre des Films, Schlüsselszenen und sogar Bildeindrücke sind über Jahre hinweg förmlich zum Greifen präsent.

Eigentlich absurd, dass das Rezeptionsdiktat der Vergangenheit auf das Hier und Jetzt pocht, statt auch das abgekühlte Korrektiv des Erinnerns, der nachträglichen Neuinterpretation von unmittelbaren Eindrücken und Gedanken gelten zu lassen. Dabei war doch das Ziel die tiefe, kopfgesteuerte Auseinandersetzung, bei der obendrein eine Menge Wissen und am besten echte Kennerschaft zu mobilisieren ist. Schon die Ur-Idee der Ausstellung und der damit erzwungene Parcours-Lauf des Betrachters trägt diesen Widerspruch in sich.  

Was bleibt von der 1 zu 1 Begegnung mit Kunst? Ein Beispiel aus Berlin

Als Illustration für die zeitliche Dimension der Kunsterfahrung dient in diesem Fall mal kein Werk, das sein Publikum über die engen Schleusen des Kunstbetriebs mit seinen Kunsthändlern, Sammlern, Kuratoren, Kustoden, Theoretikern, Galeristen, Kunst-PR-Textern, Beratern und Pädagogen gefunden hat, sondern zwei monumentale Wandbilder des italienischen Graffiti-Künstlers „Blu“, deren Dimensionen denen von Katharina Grosses jüngsten Werken in nichts nachstehen und die als Werke große Bedeutung und enormen Einfluss erlangt haben.

Blu ist sein eigener Kurator und entfernt seine Bilder

BLU hatte 2007 sowie 2009 jeweils über Nacht zusammen mit Kollegen wie dem mittlerweile berühmt gewordenen französischen Street Art-Künstler „JR“ die Brandmauern zweier Mietshäuser in Kreuzberg mit großen Graffiti versehen; beides Werke, die sich kritisch mit der Stadtentwicklung Berlins nach dem Mauerfall auseinandersetzen – plakativ, aber doch mit einer Deutungsoffenheit, die sie zu starken Bildern macht.

Die beiden Wandgemälde galten bald nach ihrem Entstehen als Berlins berühmteste Graffiti und wurden zu Symbolen, die die Widersprüchlichkeit der Künstlermetropole auf prägnante Weise in sich tragen. Einerseits sind es Wahrzeichen für das kreative Berlin – einer Stadt mit viel Freiraum für Kunst und Experimente, mit niedrigen Zugangsbarrieren für jeden, der einen Beitrag im kulturellen, künstlerischen Bereich versuchen will oder sich zumindest von dieser Vielfalt inspirieren lassen will.

Andererseits sind es Dokumente einer enttäuschten Hoffnung – der Hoffnung, dass eine Stadt wie Berlin es schafft, seinen kreativen Spielraum trotz des notwendigen Wandels zu erhalten, trotz Modernisierung und trotz der Sogwirkung auf das viele langweilige, aber vermehrungshungrige Geld, das in die Stadt kommt.

Unzählige Touristen, aber auch Einheimische, machten von den Wandbildern ihre Fotos. Stadtführungen steuerten diese Straßenecke als Höhepunkt der Graffiti-Kunst in Berlin an, selbst die Geschäftsleute vom gegenüberliegenden Spreeufer liebten den Ausblick von ihren Büros auf das Bild des Krawattenträgers mit den pissgelben Golduhr-Handschellen.

Und die Politik Berlins? Sie vermarktete die Bilder, warb damit auch über ein Jahr nach ihrem Verschwinden noch für das Kulturförderprogramm der Hauptstadt, obwohl sie keinen Cent zur Entstehung der Bilder beigesteuert hat. Und sie versagte dabei, die kulturellen Freiräume und damit die Grundlage für die Strahlkraft der Stadt zu erhalten. Allenfalls wird konserviert (z.B. die Eastside Gallery als Touristenmagnet). Berlin, das ist die Befürchtung vieler kulturell engagierter Bewohner der Stadt, wird zum Museum seiner selbst.

In diesem Zusammenhang sprach der FAZ-Redakteur Niklas Maak von der Zombifizierung der Stadt: „Die neuen Bauprojekte verdrängen nicht einfach nach guter alter Gentrifizierungsart das Einfache und Provisorische durch ein wohlhabendes bürgerliches Leben. Sie zombifizieren die Stadt: Sie lassen das, was sie verdrängten – die Ateliers, die kleinen Kunsträume, das Improvisierte, Provisorische – als wertsteigerndes, belebendes Bild wiederauferstehen. Die neue Stadt baut als Fiktion nach, was sie soeben verdrängte: Der Künstler soll dem Quartier das Aroma urbaner Widerständigkeit geben, Kultur kommt als Untoter im Gewand der Culture zurück, um den Bewohner über die Sterilität hinwegzutäuschen, die mit ihm Einzug hielt.“

Und in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 2014 passiert dann etwas Bemerkenswertes. BLU entschied gemeinsam mit Freunden und Helfern, dass die Zeit seiner Werke abgelaufen war. Sie sollten nicht länger Teil einer Ästhetik sein, die nur noch der Vermarktung Berlins dient. Die Motive wurden schwarz übermalt. So sind die beiden Wandbilder und ihr Entzug durch den Künstler gleich in mehrfacher Hinsicht symbolhaft für die aktuelle Situation der Kunst und den Wert, dem man ihr beimisst.

Das beliebte Fotomotiv und weit über Berlin hinaus bekannte Wandbild des italienischen Streetartkünstlers Blu an der Cuvrybrache wird großflächig mit schwarzer Farbe übermalt (11./12.12.2014). Offensichtlich ist der Künstler selbst aus Protest gegen die Gentrifizierung im Kreuzberger Kiez für die Aktion verantwortlich. In einem Statement im Internet heißt es, niemand solle einen Vorteil aus seiner Arbeit ziehen. Der Künstler wolle verhindern, dass der Investor der Cuvrybrache das Kunstwerk nutze, um höhere Preise zu erzielen.

Durch ihre bewusste Auslöschung aber haben die Werke nun eine weitere Rezeptionsebene erhalten, deren Wert für die weitere ästhetische Erfahrung nicht gering ist. Die Bilder sind jetzt nämlich nicht mehr im Vorübergehen „rezipierbar“ und sie sind auch nicht länger schmückendes (und sinnentleertes) Emblem für eine rebellische freie Szene kreativer Kräfte. Aber sie sind noch da.

Sofern man bereit ist, sich auch ohne ihre physische Präsenz mit ihnen auseinanderzusetzen, kann die Erinnerungsspur (im Idealfall von einer direkten Begegnung mit den Bildern stammend) weiter arbeiten – auch ohne das direkte sinnliche Erleben, sei es in der Kommunikation mit anderen „Rezipienten“ oder in der stillen Reflexion.

Vielleicht entsteht auf diese Weise sogar die komplexere, stärker reflektierende ästhetische Erfahrung – ohne Lärm auf der Straße, ohne Gedränge im Museum, ohne Ablenkung. Vielleicht kommen wir so der Verfassung nahe die Hans Ulrich Gumbrecht versucht zu beschreiben, indem er eine Äußerung des Schwimmers und dreifachen Olympiasiegers Pablo Morales aufgreift: „To be lost in focussed intensity“ – so beschrieb der Athlet ein Motiv für seine Sucht nach dem sportlichen Wettkampf (Gumbrecht stellt dieses „Verlorensein“ in eine Reihe mit dem, was Immanuel Kant ›interesseloses Wohlgefallen‹ nennt).

Damit ist eine Entrückung gemeint, die eine Schärfung der Sinneswahrnehmung auf das ermöglicht, was im hier und jetzt im Entstehen ist – sei es als Künstler vor dem werdenden Kunstwerk oder als Betrachter, der daraus Bedeutung entstehen lässt. Das ist so ziemlich das Gegenteil des Modus der Zerstreuung, der in unserer Alltagswahrnehmung vorherrscht.

Werde dein eigener Kurator!

Durch die zeitliche Perspektive der ästhetischen Erfahrungsbildung gewinnen wir als Rezipienten also die Möglichkeit, das Nacherleben eines Werks selbst zu gestalten. Denn die Kunstbetrachtung ist selbst ein kreativer Vorgang. Aus der Situation (über die wir selten kreativ verfügen, schon gar nicht im Museum) können wir eine Rezeptionsetappe machen. Aber ist das nicht banal? Ja, ist es, nur leider selten Praxis in einer Kulturlandschaft, in der man seit Generationen gewohnt ist, etwas „Fertiges“ vorgesetzt zu bekommen.

Endlich, möchte man den routinierten Dauerknipsern in Ausstellungen zurufen, macht es Sinn, Fotos zu schießen. Statt die Fotos nur auf Festplatten bzw. Clouds ungenutzt herumliegen zu lassen oder die Social-Media-Kanäle damit zu fluten, entwickelt doch eine bildgestützte Erinnerungstechnik, mit der das Kuratieren eines eigenen, imaginären Museums gelingen kann!

Warum sollten wir die direkte Begegnung mit einem Kunstwerk nicht einfach mitnehmen und gewissermaßen „kuratorisch“ verwerten? Aber das setzt eben voraus, dass wir als kreatives Publikum Techniken haben, die es möglich machen, den durch die Umstände zeitlich oft sehr beschränkten Moment der sinnlichen Erfahrung eines Kunstwerks fruchtbar zu machen und die Werke so zu einem Teil von uns zu machen. So könnten wir dieses angenehme, anstrengungsfreie, rein konsumistische Glotzen fruchtbar machen: Wegschauen oder aber sich in der „focussed intensity“ zu verlieren, um etwas Neues zu entdecken.

Natürlich bleibt die direkte Begegnung mit der Kunst elementar, aber niemand würde dem Fan einer bestimmten Band einen Vorwurf machen, weil er nicht ausschließlich zu Live-Konzerten geht, sondern seine Lieblinge ständig verfügbar bei sich hat, um sich ihrer Musik auch in passenden Alltagssituationen zu widmen. Natürlich ist auch ein persönliches Journal mit einer wachsenden Sammlung von Fotos bemerkenswerter Werke, das wir beständig mit neuen Kommentare oder Assoziationen zu den Werken füttern, etwas anderes als die direkte Begegnung mit den Werken.

Aber so wie die Geliebte oder der Geliebte über das Erinnerungsfoto ein Eigenleben erlangt, das mit der Realität und mit wachsendem Zeitabstand womöglich nicht mehr viel gemein hat, aber umso stärker die Kraft der Imagination beflügelt, lässt auch das Original den Betrachter sehr nah an sich heran und hält ihn gleichzeitig auf Distanz, denn es ist kein exklusives Ding für den persönlichen Gebrauch. Es weist über jeden einzelnen hinaus auf ein unbestimmtes Publikum und über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg; selbst wenn es über Jahrzehnte im Tresor eines Sammlers vor sich hin schlummert. Wäre es sonst Kunst? 

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