Die Sammlung Prinzhorn im Uniklinikum Heidelberg ist eine einzigartige Kunstsammlung und Inspirationsquelle. Kürzlich machte sie mit der Mitteilung Schlagzeilen, dass sie den Nachlass von Elfriede Lohse-Wächtler in ihre Obhut nehmen wird. Sie wurde von den Nationalsozialisten im Euthanasie-Programm ermordet. Warum wird die Sammlung heute stärker beachtet denn je und was steckt hinter dem Interesse an Outsider Art?
Krankheit adelt die Kunst – eine Vorstellung, die auf die Romantik zurückgeht, in der das Genie am Rande des Wahnsinns lokalisiert wurde. Die weltweit einzigartige Sammlung Prinzhorn mit Kunstwerken aus der Hand von Psychiatriepatienten fasziniert Künstler seit den 1920er Jahren.
Die Bildnerei von Geisteskranken – heute neutraler bezeichnet als die Kunst von Psychose- oder Psychiatrieerfahrenen – hat Künstler immer wieder fasziniert und beeinflusst. Bis heute ist z.B. das Interesse an den wenigen erhaltenen Werken des einst vielversprechenden Künstlers Richard Dadd (1817–1886) ungebrochen, der im schizophrenen Wahn seinen Vater tötete und danach über 40 Jahre bis zu seinem Tod in einer psychiatrischen Anstalt lebte (mehr dazu hier).
Der Art Brut-Künstler August Walla (1936–2001) gelangte zu internationaler Bekanntheit. Art Brut – „rohe Kunst“ – ist eine gängige Bezeichnung für die Kunst psychisch kranker Menschen. August Walla war schizophren und lebte den Großteil seines Lebens in der psychiatrischen Klinik Gugging bei Wien. Bäume und Häuser des Ortes waren durch Wallas Bemalungen und Beschriftungen zu Bestandteilen seiner Welt geworden, sein legendäres Zimmer durch Wandmalereien zur Kapelle seiner privaten Götter – ein wahres Kunsttheater mit Mythenmix und Wortkanonaden. Er schuf ein bizarres System aus Zeichen und eigenen Wortprägungen, das zur Vorlage anderer Künstler wie Jonathan Meese wurde.
Ein Motiv für die Faszination ist die ungeheure Intensität und existenzielle Dringlichkeit, die aus manchen Werken von Psychiatriepatienten hervorleuchtet. Aus ihnen scheint der pure Überlebenskampf von Menschen, die sich in einer schweren Krise befinden.
Ihr Kunstschaffen ist der Versuch – oftmals mit limitierten, ungelenk wirkenden gestalterischen Mitteln – ihre aus den Fugen geratene Welt zu erklären, zu deuten oder zu bändigen und sich auf diese Weise selbst zu stabilisieren. Der heutige Betrachter spürt den enormen Druck, unter dem die Patienten standen, er spürt ihren Glauben an die magische Wirkung der Bilder.
So meint beispielsweise Vanda Vieira-Schmidt, eine in der Sammlung Prinzhorn ausgestellte Künstlerin der Outsider Art, sie müsse jeden Tag eine Zeichnung machen, dürfe niemals aussetzen, denn nur so könne der Weltfrieden bewahrt werden. Ist das nicht ein Glaubensbekenntnis an die Kunst, wie man es im professionellen Kunstbetrieb schon lange nicht mehr abzulegen wagt?
Gegen dieses dramatische Motiv, künstlerisch zu arbeiten, wirkt das meditative Schaffen von Konzeptkünstlern wie On Kawara (1932–2014), der mit seinen „Date Paintings“ internationale Bekanntheit erlangte, im wahrsten Sinne des Wortes kalkuliert, wohltemperiert, ja, langweilig.
Die Sammlung Prinzhorn – ein Meilenstein für die Kunst
Der Kunstschatz des Psychiatrischen Universitätsklinikums Heidelberg umfasst heute ca. 20.000 Arbeiten und geht auf einen Aufruf des Kunsthistorikers und Mediziners Hans Prinzhorn (1886–1933) zurück, der nach dem Ersten Weltkrieg Kliniken und Sanatorien in den deutschsprachigen Ländern aufforderte, ihm zum Aufbau einer Lehrsammlung künstlerische Werke von Patienten zuzusenden. Viele Heilanstalten kamen seiner Bitte nach, hatten damals ohnehin keine Verwendung für diese „Kritzeleien und Basteleien der Irren“.
Prinzhorns 1922 erschienenes Buch Die Bildnerei der Geisteskranken wurde zum Standardwerk für nunmehr drei Generationen von Kunsthistorikern, Künstlern und Psychiatern. Der Aufbau der Sammlung kreuzte auf tragische Weise den Weg mit der nationalsozialistischen Kampagne „Entartete Kunst“, die Werke von Patienten missbrauchte, um moderne Künstler zu diffamieren, vor allem aber kollidierte er mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegenüber geistig Behinderten und Kranken. Die diesbezügliche hauseigene Publikation Todesursache Enthanasie. Verdeckte Morde in der NS-Zeit ist bereits in einer erweiterten Auflage erschienen.
Nach 1945 gerieten die geretteten Bestände der Sammlung Prinzhorn jahrzehntelang in Vergessenheit, bis sie im Laufe der 1970er vermehrt das Interesse von Künstlern und Wissenschaftlern weckten, und sich zudem unter dem Gattungsbegriff „Outsider Art“ ein Markt für Kunst von Psychiatrieerfahrenen entwickelte.
Betrachtet man die Wirkungsgeschichte der Sammlung Prinzhorn, ergibt sich ein Wellenmuster: In Zeiten gesellschaftlicher Krisen wächst das Interesse an der Outsider Art. Künstler und Intellektuelle erhoffen sich dann eine Inspiration, wenn nicht gar eine Erneuerung der Kunst aus der gesellschaftlichen Peripherie der Exoten und Außenseiter heraus – so geschehen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, aber auch in der Modernismuskritik der 1970er Jahre, die sich in Harald Szeemanns wegweisender Begrifflichkeit der „Individuellen Mythologien“ bei der documenta kunsthistorisch niederschlug. 1990 erregte eine große Ausstellung von Outsider Art bzw. Art Brut-Künstlern in Köln große Aufmerksamkeit (Titel: VON EINER WELLT ZU’R ANDERN mit 60 Künstlern).
Wachsendes Interesse an Outsider Art
In der Gegenwart ist ebenfalls wieder eine Zunahme des Interesses festzustellen. Seit gut zehn Jahren hat die Sammlung Prinzhorn einen festen Museumsstandort mit Depot und Bibliothek im Heidelberger Stadtzentrum, kann somit besser als Anlaufstelle für Interessierte dienen und gleichzeitig durch den musealen Rahmen die ausgestellte Outsider Art aufwerten. Ein Erweiterungsbau ist in Planung, um dauerhaft mehr Werke aus dem Bestand zeigen zu können, denn die Ausstellungsfläche ist mit 360 Quadratmetern viel zu klein. Schließlich nehmen die Museumsbesucher – etwa 10.000 pro Jahr, unter ihnen viele Künstler und Fachbesucher – oftmals weite Wege in Kauf, um die Sammlung sehen zu können.
Die gesellschaftliche Akzeptanz für Outsider Kunst ist ohne Zweifel gewachsen. Aber diese Entwicklung hat auch einen seltsamen Rückkopplungseffekt. Salopp ausgedrückt gelten heute persönliche Macken und moderate Phobien als durchaus ehrenhafte Belege für Individualität. Ein umfassendes wissenschaftliches Dokument u.a. dieser Entwicklung legte der Soziologe Andreas Reckwitz 2017 mit seinem lesenswerten Standardwerk Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel der Moderne vor.
Viele Menschen sehen sich selbst ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Integration und Etablierung als „Outsider“, die eigene Biografie wird in den Kategorien einer „Misery Memory“ erzählt. Wer mit seiner Kunst nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die sie womöglich verdient, kann sich schnell als Leidensgenosse jener Künstler fühlen, die in die Kategorie Outsider Art sortiert werden und dort Aufmerksamkeit bekommen.
Wer früher ein schlichtweg schlecht gelaunter Mensch war, dessen Verhaltensmerkmale fallen heute unter einen „ziemlich weit gefassten und vagen Begriff der psychischen Störung“, wie die Soziologin Eva Illouz in ihrer Untersuchung zum Siegeszug der Psychoanalyse und dem einhergehenden therapeutischen Weltbild feststellt (Die Errettung der modernen Seele, 2009).
In ihrer Vision von seelischer Gesundheit erfinden die Experten demnach immer mehr Gründe für „neurotisches Unglück“ – Defekte, die wir im Laufe unseres Lebens (und am folgenschwersten im Laufe unserer Kindheit) erwerben. Diese Defekte gilt es zu überwinden, um unser „wahres Selbst“ zu befreien und uns selbst zu verwirklichen.
Das Arbeitsfeld der Experten ist dabei denkbar weit abgesteckt. So stellte die Psychoanalytikerin Margaret Mahler schon in den 1970er Jahren fest: „Es scheint ein Teil der menschlichen Natur zu sein, dass noch nicht einmal das am normalsten ausgestattete Kind, das die zugänglichste Mutter hat, die sich denken lässt, dazu in der Lage ist, den Prozess der Trennung und Individuation ohne Krisen zu überstehen ….“
Abgesehen von Fällen, die eine Gefahr für Leib und Leben anderer mit sich bringen, werden psychisch Kranke heute in der Regel nicht mehr lebenslang in Anstalten eingeschlossen, sondern so weit wie möglich in den gesellschaftlichen Alltag integriert.
Das „Irresein“ hat in gewisser Weise Konjunktur und wird dabei gelegentlich auch verharmlost. Laut Museumsleiter Thomas Röske gibt es immer wieder Anfragen von Künstlern oder ihren Vermittlern, die sich um Ausstellungsgelegenheiten in der Sammlung Prinzhorn bewerben, wobei die Galeristen oftmals schon im ersten Satz auf die Psychiatrieerfahrung ihres Künstlers verweisen …